Letzte Generation: Von der Straßenblockade in den Gerichtssaal

Seit fast drei Jahren sorgt die Klimagruppe für Aufruhr. Die juristische Aufarbeitung ist in vollem Gange.

  • Anton Benz und Peter Nowak
  • Lesedauer: 4 Min.
Vier der angeklagten Mitglieder der Letzten Generation, Regina S., Lilli G., Kathrin A. (l-r vordere Reihe) und Michael W. (mit Mütze dahinter) stehen vor dem Eingang des China Logistic Centers, wo der Prozess wegen Aktionen auf dem Flughafen und einem Golfplatz auf Sylt verhandelt wird.
Vier der angeklagten Mitglieder der Letzten Generation, Regina S., Lilli G., Kathrin A. (l-r vordere Reihe) und Michael W. (mit Mütze dahinter) stehen vor dem Eingang des China Logistic Centers, wo der Prozess wegen Aktionen auf dem Flughafen und einem Golfplatz auf Sylt verhandelt wird.

Für die Folgen des eigenen Handelns einzustehen, das gehört für viele zum zivilen Ungehorsam dazu. Selbst wenn das bedeutet, ins Gefängnis zu gehen. So wie Winfried Lorenz. Der 65-Jährige wurde im August zu einem Jahr und zehn Monaten Haft ohne Bewährung verurteilt. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, dennoch ist es die längste Haftstrafe, die bislang gegen eine*n Aktivisten*in der Letzten Generation ausgesprochen wurde.

2022 begann die Letzte Generation mit ihren Aktionen. Die Prozesse beginnen mit einiger Verzögerung – und so stehen derzeit zahlreiche Beschuldigte bundesweit vor Gericht. Allein im November sind es laut der Klimagruppe über 20 Gerichtstermine. Zwei Verfahren stechen dabei heraus. Jedes auf seine eigene Art.

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Unfreiwilliger Farbanstrich

Ein Schaden in Millionenhöhe – darüber wird seit Dienstag in Itzehoe, Schleswig-Holstein, verhandelt. Es geht um Proteste der Letzten Generation auf Sylt im Sommer 2023. Die Angeklagten, es sind drei Männer und drei Frauen, sollen einen Privatjet orange angesprüht haben. Dass sie eine Woche später auf einem Golfplatz Löcher gegraben sowie einen Baum und mehrere kleine Blumen gepflanzt haben, dürfte angesichts des Sachschadens am Flugzeug kaum ins Gewicht fallen. Fünf der sechs Beschuldigten gaben beim Prozessbeginn zu, an den Aktionen auf dem Flugplatz der Insel beteiligt gewesen zu sein. »Ich leiste zivilen Ungehorsam, weil ich Angst und Hoffnung habe«, begründete die Angeklagte Lilli G. ihr Handeln. Sie habe Angst vor der Klimakatastrophe und gleichzeitig Hoffnung, dass die Menschheit es doch noch schaffen könne. Ein Urteil wird am Donnerstag erwartet.

Bald vor dem Bundesgerichtshof?

Ortswechsel. Ebenfalls am Dienstag fand vor dem Essener Landgericht der zweite Prozesstag gegen Malte statt, einen 21-jährigen Klimaaktivisten der Letzten Generation. Wegen 27 Aktionen ist er angeklagt. Er hat sich auf dem Düsseldorfer Flughafen festgeklebt, das historische Rathaus in Hamburg und die RWE-Zentrale in Essen mit Farbe besprüht. Der Angeklagte bestreitet die Vorwürfe nicht. Es ist nicht die Zahl der Vergehen, die den Fall besonders macht, denn damit ist Malte kein Einzelfall. Neuartig ist das: Erstmals wurde das Verfahren nicht wie sonst üblich vor dem Amtsgericht, sondern direkt vor einem Landgericht eröffnet, das sagt der Verein Rückendeckung für eine aktive Zivilgesellschaft (RAZ) e.V., der der Letzten Generation nahesteht. Eine Revision des Urteils würde demnach direkt beim Bundesgerichtshof landen, dem höchsten deutschen Gericht in Angelegenheiten wie dieser. Laut RAZ e.V. wurde bislang noch kein Verfahren der Klimagruppe vor dem Bundesgerichtshof verhandelt.

Zu Prozessbeginn hatte die Gruppe 1,5-Grad-Mahnwache Essen ihre wöchentliche Mahnwache vor der RWE-Zentrale vor das Essener Gerichtsgebäude verlegt. Sie kritisierte, dass die Justiz nicht bereit sei, einen rechtfertigenden Notstand anzuerkennen. Auch Malte erklärte in seiner Einlassung, die eigentlichen Verbrecher säßen nicht auf der Anklagebank: »Großkonzerne wie RWE können Recht biegen und brechen, wie sie wollen. Sie bauen Pipelines ohne Baugenehmigung, reißen ganze Dörfer und Landschaften aus dem Boden und verteilen die Kosten auf die Allgemeinheit«.

Die eigentlichen Verbrecher

Eine solidarische Prozessbeobachterin erklärte »nd«, dass die gleiche Staatsanwältin, die die Anklage gegen Malte erhoben hat, alle Klagen gegen den RWE-Konzern wegen Schädigung von Menschen und Natur abgewiesen hat. »Statt die Verursacher des Klimawandels vor Gericht zu stellen, werden die angeklagt, die darauf aufmerksam machen«, sagt sie. Dabei böte die Verfassung von Nordrhein-Westfalen eine Handhabe, um gegen Konzerne wie RWE vorzugehen. Schließlich heißt es dort: »Großbetriebe der Grundstoffindustrie und Unternehmen, die wegen ihrer monopolartigen Stellung besondere Bedeutung haben, sollen in Gemeineigentum überführt werden. Zusammenschlüsse, die ihre wirtschaftliche Macht missbrauchen, sind zu verbieten.« Es ist, als drehten die Beschuldigten und ihre Unterstützer*innen die Medaille um: Denn wer für die Folgen des eigenen Handelns einsteht, kann das mit einigem Recht auch von anderen einfordern.

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