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Moralapostel und Scharfrichter

Bilanz der Stasi-Unterlagen-Behörde: Vier Millionen gegauckt, dreieinhalb Milliarden verprasst, weiß Sigurd Amring

  • Bettina Richter
  • Lesedauer: 5 Min.
Kaum erfolgreich: Mitarbeiter der Stasi-Unterlagenbehörde bei Akten-Rekonstruktionsversuchen, wie hier 1994 in Leipzig
Kaum erfolgreich: Mitarbeiter der Stasi-Unterlagenbehörde bei Akten-Rekonstruktionsversuchen, wie hier 1994 in Leipzig

Interessiert es noch, was diese »Bundesbehörde für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik« (BStU) so trieb, ehe 2019 das Parlament ihre Auflösung und die Überführung der Akten ins Bundesarchiv beschloss? Fragt noch jemand nach den rund dreieinhalb Milliarden Euro, die dort verbrannt wurden? Die Geschichte ist über die Einrichtung wie auch über die Personen, die ihr den Namen gaben, lange hinweggeschritten. Wer erinnert sich noch an Gauck, Birthler und Jahn und fragt nach ihnen? Sie haben ihre Schuldigkeit getan, nachdem sie den Schaden angerichtet hatten, der von ihnen erwartet worden war. Am 17. Juni 2021 wurde die Inquisitionsbehörde geschlossen. Formell. 

Sigurd Amring, ein ehemaliger BStU-Mitarbeiter, gestattet uns jetzt einen Blick ins Innenleben der beerdigten Behörde, jenem elitären Zirkel von selbstgerechten Moralaposteln und Scharfrichtern, die nachhaltig Unfrieden in Ostdeutschland stifteten. Sie fledderten die »Stasi-Akten«, lancierten sie absichtsvoll, um das Land, in welchem sie entstanden waren, zu kriminalisieren, indem dort einst tätige Menschen bloßgestellt wurden. Wir kennen viele dieser Schicksale, sie müssen nicht repetiert werden.

Der Autor untersucht anlässlich der Überführung der »Stasi-Unterlagenbehörde« ins Bundesarchiv deren Entstehung und jahrzehntelange Tätigkeit im Auftrag der herrschenden Klasse. Das geschieht sachlich und lakonisch. Amring illustriert nicht die sarkastische, gleichwohl zutreffende Feststellung von Rechtsanwalt Peter-Michael Diestel, dass aufgrund des Wirkens der Bundesbehörde mehr Menschen den Freitod gewählt hätten, als an der deutsch-deutschen Grenze Opfer zu beklagen gewesen seien. Im Rückblick merkte er an: »Die Stasi-Hysterie war notwendig, um Ostdeutsche von den ihnen angestammten Plätzen zu entfernen. Sie hat zur Paralysierung der ostdeutschen Intelligenz geführt. Sie hat zur Infragestellung ganzer Generationen geführt.«

Das ist nicht Amrings Thema. Sondern zu zeigen, wie im Hintergrund Strippen gezogen, Akten gefunden und absichtsvoll öffentlich gemacht wurden zum Zeitpunkt, wo der Schaden maximal war. Oder wie mit Zahlen Propaganda gemacht wurde. Nur ein Vergleich: 285 000 Bürger lasen ihre Akten – aber vier Millionen Menschen wurden »gegauckt«, das heißt überprüft.

Allein schon dadurch wird die Behauptung konterkariert, dass die Behörde sich vorrangig damit beschäftigt habe, den verfolgten Ostdeutschen ihre Vergangenheit zu erhellen. Bundeskanzlerin Merkel beispielsweise erklärte nach einer Visite in der Behörde, die BStU müsse noch weitere Jahre ihre Arbeit tun, denn vielen Menschen habe der Blick in ihre Stasi-Akten geholfen, »Klarheit über ihr Leben in der DDR zu bekommen«. Amring dazu: »Abgesehen davon, dass jene Menschen zu bedauern sind, denen erst der Blick in ihre Akten half, sich Klarheit über ihr Leben in der DDR zu verschaffen. Um wie vieles bedauernswerter waren jene, die überhaupt keine Akten hatten? Hatten sie überhaupt gelebt?«

Bezeichnend, wenngleich bitter die Auflistung der von Verschwendungssucht bestimmten Behördentätigkeit. Externe und interne Überprüfungen der Verwendung finanzieller Mittel hätten »ein teilweise erschreckendes Bild« geboten. Die BStU habe »teure Arbeitsmittel angeschafft«, die man nicht benötigte und die überdies »nach einiger Zeit nicht mehr nachweisbar waren«. Die Behördenleiterin Birthler leistete sich eine Büroausstattung, die – so ein Befund des Prüfungsamtes des Bundes am 14. Januar 2004 – den vom Bundesfinanzministerium dafür vorgegebenen Höchstsatz um etwa 5000 DM überschritt. »Des Weiteren konnten Leistungen und damit verbundene Ausgaben der mit der Ausstattung ihres Büros beauftragten Innenarchitektin gegenüber dem Prüfamt nicht belegt werden.«

1996 beschaffte die BStU insgesamt 239 hochwertige Diktiergeräte zum Stückpreis von etwa 500 DM. »Acht Jahre später konnte die Behörde den Verbleib von 32 Geräten nicht mehr nachweisen.« Eine 2006 durchgeführte Kontrolle in allen Dienststellen der BStU kam zu der Feststellung, dass viele Büros »übermöbliert« seien. »So verfügten die damals 2039 Mitarbeiter zum Beispiel über 2862 Schreibtische und 3168 Bürodrehstühle. Berücksichtigte man, dass ein Teil der Mitarbeiter – Fahrer, Haushandwerker, Boten, Wachpersonal u. a. – zur Ausübung ihrer Tätigkeit keinen Schreibtisch benötigte, wurde das Ganze noch grotesker.«

An die Öffentlichkeit drang von diesem »überzogenen Anspruchsdenken« (Prüfamt) lediglich die Sache mit den Schnipseln und deren Zusammenfügung. 2007 war das Fraunhofer-Institut beauftragt worden, in einem auf zwei Jahre angelegten Pilotprojekt zu testen, ob das zerrissene Archivgut aus etwa 16 000 Säcken binnen fünf Jahren zu wirtschaftlich vertretbaren Kosten virtuell rekonstruiert werden könnte. Der Test zeigte: unmöglich. Trotzdem verlängerte die Behörde das Projekt.

2013 warf das Institut selbst das Handtuch. In den seither verflossenen sechs Jahren waren 17 Millionen Euro ausgegeben und ganze 23 Säcke – also 0,1 Prozent des Bestandes – rekonstruiert worden. 2023 erklärte die Bundesbeauftragte für Kultur und Medien, dass das Projekt »klar gescheitert« sei. Statt jedoch nach Alternativen zu suchen, »habe man zehn weitere Jahre bis heute gezahlt«. 

Verständlich also, wenn Ex-Innenminister Diestel meinte, man hätte gleich nach der Wende die Akten besser vernichten sollen, »so wie dies Helmut Kohl und Wolfgang Schäuble auch vergeblich vorgeschlagen hätten«. Warum es nicht so gekommen ist, verrät Amring ebenfalls in seinem kurzweilig zu lesendem Sachbuch. 

Sigurd Amring: Ende einer Behörde. Anmerkungen zu dreißig Jahren BstU. Eine kritische Besichtigung. Verlag am Park in der Edition Ost, 154 S., br., 15 €.

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