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Langzeitarbeitslosigkeit: Diskriminierung auf dem Papier
Deutsches Alleinstellungsmerkmal: Der Mindestlohn ist für Langzeitarbeitslose in den ersten sechs Monaten einer Beschäftigung nicht verpflichtend
Als die Große Koalition 2015 den gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro einführte, blieb ein Aspekt besonders umstritten: die Sonderregelungen für Praktikant*innen, unter-18-Jährige, Zeitungszusteller*innen und Langzeitarbeitslose, also Personen, die über zwölf Monate lang arbeitslos waren. Bei Langzeitarbeitslosen ist es Arbeitgebern bis heute freigestellt, ob sie in den ersten sechs Monaten den Mindestlohn zu zahlen, solange für die Stelle kein höherer Tariflohn vereinbart ist. Sie müssen sich dazu die Dauer ihrer Arbeitslosigkeit vom Jobcenter bestätigen lassen.
Als »grottenschlecht« bezeichnete Klaus Ernst (damals Die Linke, heute BSW) deswegen das Gesetz, auch Brigitte Pothmer (Die Grünen) nannte die Sonderregelung »wirklich übel« und betonte, es gebe sie in keinem anderen Mindestlohn-Land. Sowohl die Grünen als auch Die Linke hatten im Vorfeld Änderungs- und Entschließungsanträge gegen die Regelung eingereicht. Die damalige SPD-Arbeitsministerin Andrea Nahles kündigte die Klausel deswegen als befristet an. Sie sollte in den folgenden zwei Jahren evaluiert werden. Die Auswertung passierte, kam zu wenigen Ergebnissen und beinahe zehn Jahre später gilt die Regelung immer noch.
In Bremen, wo laut Statistischem Bundesamt prozentual gesehen die meisten Arbeitslosen wohnen, zeigt sich Sabine Hummerich, Beraterin bei der Aktionsgemeinschaft arbeitsloser Bürgerinnen und Bürger (Agab), gegenüber »nd« empört über das Gesetz. Es sei ein Beispiel dafür, wie der »sogenannte soziale Rechtsstaat eben nicht« funktioniere. Arbeitgeber, die die Jobvergabe von Lohnsubventionen abhängig machen, seien »nicht vertrauenswürdig«. In der Arbeitsvergabe müsse es um Qualifikationen gehen.
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»Die Befürchtung war damals, dass Langzeitarbeitslose noch stärker aus der Arbeitswelt ausgeschlossen werden«, erklärt Philipp vom Berge, vom Forschungsdatenzentrum am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung im Gespräch mit »nd«. Langzeitarbeitslose hätten es ohnehin schwer, am Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Stünden Arbeitgeber vor der Wahl, Langzeitarbeitslose oder eine andere Person mit Mindestlohn einzustellen, könnten sie sich vermehrt für letztere entscheiden, so die Spekulation. Die gegenteilige Befürchtung: Durch die Sonderregelung könnte ein sogenannter »Drehtüreffekt« entstehen, durch den Langzeitarbeitslose eingestellt und wieder entlassen würden, sobald man ihnen den Mindestlohn zahlen müsste.
Tatsächlich trat ein, womit niemand gerechnet hatte: »Die Regelung war kaum bekannt und wurde auch selten angewandt.« Vom Berge arbeitete 2016 an der bis heute einzigen Studie zu der Sonderregelung mit. Sie trägt den Titel »Wenig wirksam und kaum genutzt«. Ihr Fazit: Die Ausnahmeregelung führte zu keinen messbaren Lohn- oder Beschäftigungseffekten. Sie blieb dennoch erhalten. Der anschließende Antrag linker Fraktionen, die Sonderregelung abzuschaffen, wurde abgelehnt, ebenso weitere Anträge in den Folgejahren.
Auf »nd«-Nachfrage, ob es inzwischen Bestrebungen gebe, die Gesetzeslage zu ändern, verweist auch eine Sprecherin des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales darauf, dass die Regelung laut der Studie von 2016 »wenig genutzt werde«. Auch während der Debatte um das Wachstumsgesetz, dass das Bürgergeld mit mehr Sanktionen und Anreizen ausstatten sollte, war die Regelung kein Thema. Neue Erhebungen zur Sonderregelung sind seit 2016 nicht erfolgt. Laut einem IAB-Forschungsbericht von 2022 reduzierten der Mindestlohn und seine Erhöhungen die Bedürftigkeit von Menschen in der Grundsicherung, der Leistungbezug selbst konnte dadurch aber nicht überwunden werden.
Die Situation mutet laut dem Erwerbslosen- und Sozialverein Tacheles heute ähnlich an wie 2016. In Beratungen sei man mit der Regelung selten konfrontiert, denn Arbeitslose würden sich darüber »keinen Kopf machen«. Sie seien ohnehin so unter Druck gesetzt, dass sie »jegliche prekäre Beschäftigung akzeptieren« würden. Derlei Regelungen würden Probleme in der Praxis nur fördern, zeigt sich dagegen Hummerich in Bremen überzeugt. Personen in Agab-Beratungen seien vor allem aufgrund schwerer Schicksalsschläge oder fehlender Ausbildung von längerer Arbeitslosigkeit betroffen. Dem würden statt der Sonderregelung Qualifizierungsmaßnahmen, Coaching-Angebote und Entbürokratisierung abhelfen.
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