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Erotik-Callcenter: »Deine frechen Fantasien per SMS«
Sexarbeit als Textarbeit: Pornoprosa auf 160 Zeichen
Morgens um 5.15 Uhr verlasse ich das Call-Center. Heute Nacht war ich abwechselnd devote Schmusekatze und gnadenlose Domina; zugleich in Gruppensex verwickelt oder mit Kotz- und Fäkalienspielereien zugange. Es ist das Jahr 2004 und ich arbeite im Nebenjob zu meinem Studium bei einem Erotik-Chat-Call-Center in Berlin. Arbeitszeit bevorzugt nachts. Morgens nach der Schicht fühlt man sich ausgelaugt und aufgekratzt zugleich, wenn viel los war. Hirnfick sozusagen.
Bevor wir zu den delikaten Details kommen, eine kurze zeitgeschichtliche Einordnung. Die Nullerjahre sind eine Übergangszeit zwischen analoger und digitalisierter Kommunikations- und Medienwelt. Die Videokassette hat ausgedient, in den langsam aussterbenden Videotheken gibt es noch DVDs, deren Tage auch bereits gezählt sind. Das Filmstreaming über Anbieter wie Netflix oder Amazon ist noch nicht verbreitet, ebenso wenig die kostenlosen Pornoseiten im Internet wie Pornhub etc.
Apropos Internet – das gibt es noch nicht auf Mobiltelefonen, denn die sind noch nicht »smart« und ohne Apps. Social Media in Form von Facebook, Instagram oder Tiktok ist ohnehin noch Zukunftsmusik. Anstelle von Whatsapp oder Telegram wird auf dem Handy per SMS getextet. Die Geräte können aber schon ein bisschen mehr, als lediglich Anrufe zu tätigen: Es lassen sich Fotos in niedriger Auflösung aufnehmen, sie bieten verpixelte Spiele und können Melodien abspielen. In den Jahren ihres Niedergangs werden die Musiksender Viva und MTV von Werbung für Handy-Klingeltonmelodien überschwemmt, die Musikvideos davon verdrängt. Neben solchen Klingeltönen, die per Tastenkombination kostenpflichtig bestellt werden können, sind auch SMS-Abos ein lukratives Geschäftsfeld – zum Beispiel fürs tägliche Horoskop oder den Wetterbericht.
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Und hier kommen wir zum Geschäft: die SMS mit maximal 160 Zeichen für teure Pornoprosa in Kurzform. Zu nachtschlafender Stunde wird im Privatfernsehen oder im Teletext »Erotischer Direktkontakt« per SMS beworben – versehen mit dem Hinweis »gebührenpflichtig 1,49 Euro pro SMS«. Unter Überschriften wie »Deine frechen Fantasien per SMS« finden sich verschiedene Telefonnummern, die je nach Vorliebe angeschrieben werden können, um einen Chat zu starten: »Spaß mit FF«, »OV bis zum …«, »Highheels«, »KV & NS«, »Lack & Latex« oder auch »Extrem«.
Sex per SMS? Die Ökonomisierung der Begierde kennt verschiedene Formate und kann sinnlich auf unterschiedliche Wege angesprochen werden. Im Pornofilm gibt’s was zu sehen. Ist die (weibliche) Lust auch vorgetäuscht – der Akt ist es nicht. Beim Telefonsex ist weder die Lust echt, noch findet ein Akt statt – aber die sprechende Person am Ende der Leitung ist real. Vortrefflich: In Robert Altmans Spielfilm »Short Cuts« füttert die nebenberufliche Sex-Telefonistin Lois ihr Baby, während sie erotische Fantasien in den Hörer haucht (zum Leidwesen ihres Ehemanns).
Beim SMS-Chat gibt es hingegen nichts zu hören oder zu sehen – die knappen personalisierten Textnachrichten bieten umso größeren Raum für das sexuelle Vorstellungsvermögen des zahlenden Empfängers. Zudem ist die Hemmschwelle niedriger, seine Wünsche per SMS kundzutun, als wenn man dem Gegenüber dabei in die Augen schauen oder sich verbal artikulieren muss. Abgerechnet wird über die Telefonrechnung pro erhaltener SMS.
Ich heuere also als Student in einem Call-Center für erotische Text-Dienstleistungen an. Das Beschäftigungsverhältnis ist prekär und zwielichtig. Angestellt wird man als »Selbstständiger«, also als Ich-AG ohne Ansprüche auf Sozialversicherung, Urlaub oder Schichtzulagen. Es handelt sich ziemlich offensichtlich um Scheinselbstständigkeitsverhältnisse. Die Arbeit wird im Call-Center zu vorgegebenen Zeiten verrichtet, Rechner und Software vom Arbeitgeber bereitgestellt. Anstelle eines Stundenlohnes gibt es ein provisionsbasiertes Honorar, das man in Rechnung zu stellen hat. Ein paar Cent pro geschriebener SMS mit mindestens 100 Zeichen. Ein paar Cent mehr, wenn der Chat länger als fünf Nachrichten läuft und zudem eine Prämie, wenn Kontakte nach Abbruch des letzten Chats reaktiviert werden können.
Damit bewegt man sich unterhalb des Mindestlohns – wenn es schlecht läuft, etwa fünf, wenn es gut läuft, 6,50 Euro pro Stunde. Ein schwacher Trost: Henry Miller hatte für seinen 1942 erschienenen Pornoklassikerroman »Under the Roofs of Paris« angeblich auch lediglich einen Dollar Honorar pro Seite kassiert (auf Deutsch 1982 unter dem Titel »Opus Pistorum«).
Die beste Arbeitszeit ist zwischen 21 und 4 Uhr nachts, wenn die Werbung für den Erotikchat auf den Fernsehbildschirmen der Republik flimmert. Da sitze ich nun in einem Großraumbüro am Computer. Mittels der Call-Center-Software erstellen wir zu jeder eingehenden Mobilnummer ein Profil mit Namen und Vorlieben. Im Profil kann der bisherige Chatverlauf nachverfolgt werden. Das erweist sich als sehr hilfreich, da etliche der zahlenden Kunden den Kontakt wiederholt an mehreren Tagen und zu unterschiedlichen Uhrzeiten nutzen. Im Call-Center sitzt allerdings häufig nicht die gleiche Person. Zum Glück öffnet sich bei wiederholtem Kontakt automatisch das Kundenprofil auf dem Bildschirm vor mir und ich kann direkt an den Notizen eines Kollegen anknüpfen: Wer bin ich, was will er und was ist zuletzt passiert? Schließlich gehen viele der Kunden davon aus, dass sie wieder mit der gleichen »Frau« schreiben.
Während einer Schicht laufen mehrere Chats parallel und jeder Textarbeiter schlüpft gleichzeitig in verschiedene Rollen, kommuniziert mit unterschiedlichen Kunden. Minütlich werden SMS verfasst, die ganz unterschiedliche Profile und sexuelle Vorlieben bedienen. Die eine Minute schreibt man als Hausfrau, die nächste als junge Studentin oder als Domina. Multitaskingfähigkeit ist unerlässlich.
Was wird gewünscht? In der Regel heterosexistische Männerfantasien, wie sie in den 08/15-Pornofilmen bedient werden (GV, AV, OV). Wenn sich ein Kunde als Frau vorstellt, steckt dahinter meist doch ein Mann, der hören beziehungsweise lesen will, wie er es »als Frau« so richtig besorgt bekommt.
Die Kunst für die Textarbeiter im Call-Center besteht darin, den Dialog möglichst in die Länge zu ziehen, ohne den Kunden zu verlieren. Der Chat endet, sobald der Kunde auf eine Nachricht nicht mehr antwortet. Je länger der Dialog, desto höher das Honorar. Oft ein schmaler Grat. Wenn der Kunde erwartet, dass es gleich zur Sache geht, wird er nicht über Urlaubsziele oder Hobbys chatten wollen. Dann eben erst mal eine SMS fürs leidenschaftliche Küssen, die nächste SMS fürs zärtliche Streicheln, danach Beschreibung der Unterwäsche, begieriges Ausziehen etc.
Auch den Akt selbst, die Penetration, gilt es wie in einem Fortsetzungsroman in Textbausteine à 100 Zeichen zu portionieren – detailverliebt und mit Stellungswechseln. Damit diese knappe Nachricht elektrisiert und Lust auf mehr macht, lebt sie von bildlicher, von Adjektiven gesättigter Schilderung: weich, feucht und saftig. Etwa so: »diese lüsterne nachricht ist so heiß auf das pulsierende objekt, dass sie es von einem geilen subjekt genüsslich massieren lässt.« (128 Zeichen)
Manch ein Gegenüber steigt mit eigenen Fantasien in den Dialog ein. Mit Fragen wie »was machst du jetzt mit mir?« kann das stimuliert werden. Manche Kunden beenden den Chat nach drei Nachrichten – andere schreiben zwei Stunden lang, etwa über die Beschaffenheit von Vorhäuten. In maximal 160 Zeichen kann man schließlich nicht viele Worte unterbringen.
Spannend wird es für die Textarbeit bei Abweichungen vom Standardprogramm, wenn also spezielle sexuelle Vorlieben bedient werden sollen. Neben Körperausscheidungen in allen Variationen tauchen unzählige Fetischfantasien auf: Latex, knisternde Nylonjacken, Käsefüße, Windeln, Tampons, Kaninchenfelldecken oder brennende Hausschuhe (»ganz langsam züngeln die flammen über die ausgelatschte sohle und das feuer fängt an, den stoff zu verzehren …«).
Die Fraktion der Sklaven wünscht sich Erniedrigung und Bestrafung auf jede erdenkliche Weise. Ein Kunde möchte lesen, wie er in der Öffentlichkeit für seinen kleinen Penis lächerlich gemacht und vor möglichst großem Publikum blamiert wird. Im Großraumbüro wird sich im Zweifel darüber ausgetauscht, welche Bedürfnisse sich hinter so manch kryptischer SMS verbergen. Was ist beispielsweise die richtige Antwort auf die Zuschrift: »ich liege hier in meiner vakuummatratze!!!«?
Es gibt aber auch eine Indexliste. Im Chat dürfen folgende Fantasien nicht unterstützt werden: Sex mit Minderjährigen, Inzest, Sodomie, Gewaltfantasien mit schweren Verletzungen und Todessehnsucht. Den Kunden wird dies ausgeredet: »lass mal, auf so was steh ich nicht«, aber natürlich wird versucht, ihnen eine Ersatzfantasie anzubieten: »wie wäre es, wenn wir …«. Pädophile werden pauschal abgewiesen; Tierquäler hingegen nicht. Das Quälen oder Töten von wirbellosen Tieren wie Würmern oder Schnecken ist im Chat erlaubt – nicht jedoch von Hunden oder Katzen. Als ein Kunde darum bittet, ihm per SMS zu beschreiben, wie mit hohen Schuhabsätzen ein Kaninchen zertrampelt wird, bekommt er als Antwort: »ich hätte größere lust mit meinen geilen weißen high-heels einen fetten wurm zu zerquetschen. bist du dabei?« Er ist dabei – und will selbst der Wurm sein. Ein paar SMS später ist es dann so weit: »ich werde dir mit meinem plateauabsatz gleich die innereien von hinten nach vorne rausquetschen … spürst du den druck in deinem kopf?«
Solcherart bizarre Fantasien begegnen mir im SMS-Chat einige. Da hätten wir den »Skelettmensch«: Er ist vorgeblich total dürr und magert sich immer weiter ab, bis die Haut nur noch dürftig über seine Knochen spannt. Er will darüber reden, warum Sex mit ihm nicht mehr möglich sein soll. Wir widersprechen ihm natürlich stets und sagen, wie sexy wir solch ein filigranes Gerippe finden. Oder der »Indianer« Rolf, der eine möglichst große Anzahl von Pfeilen in einer Vagina versenken möchte und durch Nachrichten mit viel Gestöhne und großen Zahlen stimuliert wird: »boooaaaarhhh, jaaaaaa treffer! schon 79.537.908.841.003.197.000.290 PFEILE IN MEINER MU****!!!! hast du noch mehr, rolf?« Oder der Kunde, der ein winzig kleiner Wicht sein möchte, der sich an den Adern meines Handrückens reibt, die er penetrieren will. Bis er letztendlich von einem Finger in die Biomülltonne geschnippt werden soll. Das Gelächter ist groß unter den Kollegen im Call-Center.
Weniger lustig, eher bedauernswert sind einige der Kunden, die eine »echte« Partnerin finden wollen und nicht selten auf ein reales Treffen pochen. Traurig auch die armen wirren Nutzer, die sich teilweise kaum artikulieren können und offenbar gar nicht merken, auf welche Art Chat sie sich einlassen und dass sie so um ihr Geld gebracht werden.
Wer auf ein echtes Treffen mit der »Frau aus dem Chat« aus ist, wird von den Textarbeitern ewig hingehalten. Eine definitive Ansage, dass dies schlicht nicht möglich ist und der Kunde einem fundamentalen Irrtum unterliegt, gibt es von uns nicht. Schließlich würde das den Chat mit Sicherheit beenden. Wir schlachten keine Kuh, die wir noch melken können. Also bringen wir immer neue Vorbehalte und Bedenken vor: »brauche noch Zeit«, »kenne dich noch zu wenig. erzähle mir mehr über dich …«. Und dann gibt es ständig Terminfindungsschwierigkeiten, weshalb man sich nie festlegen kann.
Wenn die Gegenseite kapitulieren will, helfen oft erotisch stimulierende Nachrichten, um das Feuer und die Hoffnung auf den realen Kontakt neu zu entfachen. Zum Trost kann man auch mal ein MMS-Bildchen einer Vagina in schlechter Auflösung anbieten (Kostenpunkt 1,99 Euro pro MMS).
Jeder Chat endet irgendwann. Wenn der Kunde nicht mehr auf unsere SMS reagiert, ist es vorbei. Das Geschäft basiert darauf, dass der Kunde mit seiner SMS an uns vertraglich eine kostenpflichtige Kurznachricht bestellt. Entsprechend können wir keine SMS abrechnen, die unaufgefordert an den Kunden geschickt wird.
Wir lassen den Kunden jedoch nicht so einfach vom Haken. Wenn im Dialog nach einer halben Stunde keine Antwort da ist, versuchen wir ihn mit einer kostenlosen Textnachricht wieder zurück ins Gespräch zu bringen. Darüber hinaus verschicken wir jeden zweiten Tag eine kostenlose Reaktivierungsnachricht an unsere Kunden, die ihnen inhaltlich möglichst auf den Leib geschrieben ist. Hilfreich sind dabei häufig Catchwords zu den speziellen sexuellen Neigungen – à la »ich sitze mit meinem latexhintern mitten auf deinem gesicht und drücke dir mit meinen latexhandschuhen die luft ab … willst du mehr, stefan?«
Wenn jemand enttäuscht ist, dass es keinen direkten Kontakt wie Telefonnummer, Adresse oder Treffpunkt gab und er daraufhin den Chat abgebrochen hat, ist die Reaktivierung verhältnismäßig simpel: »hallo daniel, mein süsser! meld dich doch bitte möglichst bald bei mir, wenn dein angebot noch steht ;-)«, oder: » norbert, mein süsser. Ich habe gute neuigkeiten ;--) meld dich doch mal bitte dringend!« Nur, um dann wieder völlig unkonkret herumzudrucksen und den hoffnungsfrohen zahlenden Kunden erneut in einen möglichst langen, für ihn am Ende sehr deprimierenden und kostspieligen Dialog zu verwickeln. Diese Art der Abzocke ist natürlich moralisch verwerflich, aber wir beschwichtigen uns damit, dass die Kunden schließlich selbst schuld sind, wenn sie nicht das Kleingedruckte in der Anzeige lesen (»Kein Treff«).
Abgesehen davon ist die Tätigkeit als Textarbeiter im Pornochat nicht unangenehm, eher kurzweilig und bisweilen spannend. Letztlich führt die magere Entlohnung jedoch zu einer hohen Fluktuation unter den Call-Center-Agents, und auch ich streiche nach sechs Monaten die Segel. Jede beliebige Tageszeitung zahlt ein deutlich höheres Zeilenhonorar. Unter der schlechten Entlohnung leidet auch die Qualität der Texte und die Abzocke von Kunden wird begünstigt. Es fehlt schlicht die Zeit, um kreativ und fantasievoll auf die Bedürfnisse der Kunden einzugehen. Leider ist dieser Bereich des Arbeitsmarkts noch kaum gewerkschaftlich erschlossen, was insbesondere durch die Form der Beschäftigungsverhältnisse erschwert wird. Im Betrieb arbeiten vornehmlich Studierende, die ohne Vertrag auf Honorarbasis beschäftigt werden. Anstatt für bessere Arbeitsbedingungen zu kämpfen, suchen sie sich nach kurzer Zeit einen anderen Job. Textarbeiter und auch Nutzer des SMS-Chats haben mehr verdient.
Was bleibt? Social Media, Smartphones und kostenlose Pornoportale haben den teuren SMS-Chat in ein lediglich noch im Teletext beworbenes Nischendasein verdrängt. Wer den anonymen erotischen Austausch sucht, kann dafür heutzutage kostenlos und dank Smartphone überall und jederzeit beliebige Onlineforen aufsuchen. Im Internet locken Livechats, Dating-Börsen sowie Webcam-Boys und -Girls mit interaktiven Videostreams. Wo sich allerdings noch eine zahlungskräftige Nachfrage für den erotischen SMS-Chat findet, da wird sich auch heutzutage noch so manch prekär beschäftigter Textarbeiter für schmales Honorar mit Pornoprosa und dem Verkauf von Illusionen auf 160 Zeichen verdingen.
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