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Im Jahr 2023: Fast ein Femizid pro Tag
Laut einem neuen BKA-Lagebildnimmtt die Gewalt gegen Frauen in allen Bereichen zu. Die Expertin Asha Hedayati ordnet die Zahlen für »nd« ein
Fast jeden Tag wurde im Jahr 2023 ein Femizid begangen. Das geht aus dem aktuellen Lagebild »Geschlechtsspezifisch gegen Frauen gerichtete Straftaten« hervor, das Lisa Paus (Grüne) und Nancy Faeser (SPD), die Bundesministerinnen für Frauen und Inneres am Dienstag vorgestellt haben.
Unter einem Femizid versteht das BKA ein Tötungsdelikt an Frauen, die getötet werden, »weil sie Frauen sind«, heißt es im Bericht. Genauer sind Delikte gemeint, »die im Kontext patriarchalisch geprägter Familienverbände oder Gesellschaften vorrangig von Männern an Frauen verübt werden, um die aus Tätersicht verletzte Ehre der Familie oder des Mannes wiederherzustellen«.
938 Mädchen und Frauen wurden im vergangenen Jahr Opfer von versuchten oder vollendeten Tötungsdelikten – 360 von ihnen wurden ermordet. Die größte Gefahr für Frauen geht weiterhin von ihren eigenen Ehemännern oder Partnern aus: 80,6 Prozent der Femizide wurden laut BKA-Lagebild im Zusammenhang mit partnerschaftlichen Beziehungen begangen.
In allen erfassten Bereichen von Gewalt gegen Frauen sind die Zahlen im Vergleich zum Vorjahr und im Fünfjahrestrend angestiegen. Etwa wurden im Berichtsjahr 2023 52 330 Frauen und Mädchen Opfer von Sexualstraftaten, eine Zunahme um 6,2 Prozent im Vergleich zum Jahr 2022. Besonders erschreckend: Über die Hälfte von ihnen waren minderjährig.
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Die Dunkelziffer wird allerdings als sehr hoch eingeschätzt. »Die Zahlen, die wir seit 2015 jedes Jahr bekommen, sind das sogenannte ›Hellfeld‹ und dieses wird größer«, erklärt Asha Hedayati, Anwältin für Familienrecht, gegenüber »nd«. Ob das nur daran liege, dass Frauen mehr Anzeigen erstatten, könne sie nicht mit Sicherheit sagen. »Die meisten meiner Mandantinnen erstatten keine Strafanzeige. Ich gehe davon aus, dass Hellfeld und Dunkelfeld gemeinsam wachsen.«
Doch warum stellen so viele Frauen keine Strafanzeige? Die meisten Frauen haben existenzielle Sorgen, so Hedayati, die regelmäßig von häuslicher Gewalt betroffene Mandantinnen betreut. »Sie müssen erst einmal einen Frauenhausplatz finden und dann bezahlbaren Wohnraum, um aus dem Frauenhaus rauszukommen. Sie müssen ihre Kinder versorgen und sind häufig von Armut betroffen, also müssen sie sich durch einen Bürokratiejungle für Sozialleistungsanträge kämpfen«. Die meisten Frauen hätten dann ganz andere Sorgen, als bei der Polizei eine Anzeige gegen ihre Ex-Männer zu stellen.
Gewalt gegen Frauen steige nicht trotz, sondern wegen der Emanzipation von Frauen, betont Hedayati. »Das sieht man in Partnerschaften daran, dass die Gewalt genau dann eskaliert, wenn die Betroffenen emanzipatorische Schritte machen, also sich mehr mit Freundinnen treffen, mehr arbeiten, in einen Verein eintreten«, so die Autorin. Das erlebten männliche Partner als solchen Kontrollverlust, dass sie die Gewalt eskalieren. »Der Höhepunkt davon ist die Trennung und auch gleichzeitig der Hochrisikofaktor für Femizide.«
Und was macht die Politik, um Frauen zu schützen? Innenministerin Nancy Faeser (SPD) forderte bei der Vorstellung des Lagebilds mehr Härte gegen die Täter. »Neben harten Strafen brauchen wir verpflichtende Anti-Gewalt-Trainings und elektronische Fußfesseln, damit die Täter ihr Verhalten tatsächlich ändern und sich betroffenen Frauen nicht mehr unbemerkt nähern können.«
Die Fußfessel müsste in das Gewaltschutzgesetz geschrieben werden. Laut Faeser soll der ehemalige FDP-Justizminister Marco Buschmann das Vorhaben blockiert haben. Sie sei aber zuversichtlich, dass sein Nachfolger Volker Wissing für die Regelung offen ist, so Faeser.
Familienministerin Lisa Paus (Grüne) will mit dem »Gewalthilfegesetz« die Angebote für von Gewalt- betroffenen Frauen verbessern. Noch nächste Woche soll das Kabinett beraten und die Sache dann schnellstmöglich an die Ausschüsse im Parlament übergeben werden, so Paus.
»Trennungen sind für Frauen der Hochrisikofaktor für Femizide.«
Asha Hedayati Rechtsanwältin
Nach dem Entwurf sollen die Bundesländer verpflichtet werden, ein ausreichendes Netz an Schutzeinrichtungen und Beratungsstellen sicherzustellen. Im Gesetzentwurf ist ausdrücklich vorgesehen, dass den Betroffenen Schutzeinrichtungen wie Frauenhäuser kostenlos zur Verfügung stehen. Es muss lediglich eine akute Gefährdungslage vorliegen, für deren Nachweis entsprechende »Angaben der gewaltbetroffenen Person« ausreichend sein sollen.
Der Bund soll sich über zehn Jahre hinweg an den entstehenden Kosten beteiligen. Genau daran hat es nach Darstellung von Paus auch gelegen, dass das Gesetz bislang nicht durchgebracht wurde. Zwei Jahre lang habe man an dem Entwurf gearbeitet, die Finanzierung sei ein wichtiger Bestandteil des Gesetzes gewesen. »Mit dem ehemaligen Finanzminister sind wir uns dazu nicht einig geworden« – in anderen Worten: Christian Lindner (FDP) hat das Vorhaben blockiert. Mit dem neuen Finanzminister Jörg Kukies (FDP) habe sich Paus auf die Finanzierung einigen können.
Ob die Vorhaben ohne eine parlamentarische Mehrheit seitens der Regierung verabschiedet werden können, ist unklar.
»Es ist wichtig, dass das Gewalthilfegesetz umgesetzt wird. Aber das ist wirklich das Mindeste«, findet Hedayati. Es brauche eine gesamtgesellschaftliche Haltung gegen Gewalt an Frauen, die auf allen Ebenen stattfinden müsse. »Im Bereich Bildung müssen schon früh Geschlechterrollen dekonstruiert und problematische Männlichkeitsbilder thematisiert werden. Das Thema Gewalt muss in allen Bildungsinstituten präsenter werden, wirtschaftliche Abhängigkeitsverhältnisse müssen bekämpft werden und es braucht bezahlbaren Wohnraum, damit sich Frauen überhaupt trennen können.«
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