• Kultur
  • Venezianische Frührenaissance

Als Augenzeuge in der Drachenwelt

Farben wie Rindfleisch: Die Stuttgarter Staatsgalerie gondelt mit Vittore Carpaccio und Giovanni Bellini durch die venezianische Renaissance

  • Georg Leisten
  • Lesedauer: 5 Min.
Auf Wunsch eines frühneuzeitlichen Luxusunternehmers musste hier nachgebessert werden: Vittore Carpaccio, »Der heilige Thomas von Aquin mit den Heiligen Markus undLudwig von Toulouse«, Tempera auf Holz, 1507
Auf Wunsch eines frühneuzeitlichen Luxusunternehmers musste hier nachgebessert werden: Vittore Carpaccio, »Der heilige Thomas von Aquin mit den Heiligen Markus undLudwig von Toulouse«, Tempera auf Holz, 1507

Glasfabrikanten sind zickige Kunden. Zumindest auf Murano, jenem Inselgrüppchen in der Lagune von Venedig, wo seit Jahrhunderten die exquisitesten Kristallprodukte der Welt gebrannt, geblasen und geschliffen werden. 1507 wünscht sich Tommaso Dragan, Inhaber eines solchen Luxusunternehmens, ein Altarbild für die private Grablege der Familie. Er engagiert einen der renommiertesten Maler der Zeit: Vittore Carpaccio. Der gibt sich denn auch alle erdenkliche Mühe, es Dragan recht zu machen. Als Anspielung auf den Vornamen des Auftraggebers rückt der Künstler den Kirchenlehrer Thomas von Aquin ins Zentrum der Komposition, setzt einen Sohn Dragans als Stifterfigur dazu und pinselt schließlich zur Ehre des Glasgewerbes ein Maßwerk aus Butzenscheiben in den rundbogigen Abschluss. Doch für einen Dragan, dessen kristallische Kelche in ganz Europa elitäre Abnehmer finden, sind Flaschenbodenfenster viel zu gewöhnlich. Carpaccio muss noch mal auf die Leiter. Zähneknirschend lässt er die Butzenscheiben hinter Wolken und Engelchen verschwinden: Wer das Geld gibt, kontrolliert. Wo hätte diese Regel konsequenter gegolten als in der frühkapitalistischen Lagunenstadt, die den Handel mit dem östlichen Mittelmeer beherrschte.

Jüngst erst brachten Mitarbeitende der Stuttgarter Staatsgalerie den ursprünglichen Zustand der »Pala Dragan« ans Licht. Logisch also, dass die Schwaben der monumentalen Altartafel nun einen Ehrenplatz in ihrer aktuellen Sonderschau reserviert haben. »Carpaccio, Bellini und die Frührenaissance in Venedig« heißt die kostbar-stille Ausstellung, für die Leihgaben aus internationalen Topsammlungen eingeflogen wurden. Am Beispiel von Carpaccio und Giovanni Bellini, denen noch Lorenzo Lotto und andere zur Seite springen, illustriert Kuratorin Annette Hojer, wie die venezianische Kunst in die Neuzeit aufbrach.

Keine Frage, im Vergleich zu Florenz war die Serenissima spät dran mit der Renaissance, doch die Lagunenbewohner drückten der humanistischen Kultur einen ganz eigenen Stempel auf. Während man am Arno auf Theorie setzte, auf Platon, die Mathematik und einen betont zeichnerischen Konzeptualismus, begann oben an der Adria eine Epoche der Sinne, die Renaissance der Daseinsfülle.

Dass Carpaccios saftige Rottöne einen modernen Gastronomen inspirierten, eine Vorspeise aus dünn aufgeschnittenem Rindfleisch nach dem Künstler zu benennen, und Bellini als Taufpate eines Pfirsich-Prosecco-Cocktails gilt, ist sicher kein Zufall. An Venedigs Anlegestellen, wo die Schiffe aus der Levante ihre Fracht löschten, gab es nicht nur viel zu sehen, sondern auch zu fühlen, zu schmecken und zu riechen. Süße Weine, Gewürze und Trockenfrüchte, vornehm gewirkte Textilien. Mancher schmeichelweiche Seiden- oder Brokatstoff kehrt in den Gewändern der Heiligendarstellungen wieder. Auch der anatolische Teppich im Interieur von Carpaccios »Geburt Mariens« (1502/03) dürfte aus der Produktpalette venezianischer Importeure stammen.

Nicht zuletzt bestimmten die Rohstoffe der Malerei, die Pigmente, das Gesicht der venezianischen Renaissance. In Gold aufgewogener Lapislazuli etwa, der das magisch-blaue Ultramarin ergab, kam dank der Handelsbeziehungen mit dem Orient viel verschwenderischer zum Einsatz als in anderen Regionen Italiens. Und zuweilen hatten auch Geschäftsreisende aus dem Norden eine gute Idee im Gepäck. Zum Beispiel die Ölmalerei, die subtilere Farb- und Beleuchtungseffekte ermöglichte als die traditionelle Temperatechnik.

All das erfährt man in Stuttgart, trotz einer methodischen Unentschiedenheit beim Ausstellungsformat: Ist das Ganze nun ein Epochenüberblick, eine monografische Ausstellung zum 500. Todestag Carpaccios oder eine Gegenüberstellung von Bellini und Carpaccio plus Weggefährten?

Aber egal. Der Parcours, auf dem das Museum die Besuchenden durch die thematisch strukturierten Räume gondelt, garantiert Abwechslung und Anregung. Bald glaubt man, einem diplomatischen Empfang auf dem Markusplatz beizuwohnen, bald fühlt man sich in die intimen Gemächer der Adelspaläste versetzt.

Venedigs kreative Innovationskraft verdichtet sich in den Madonnenbildnissen. Sie sind Schnittstellen zwischen sakraler und profaner Welt. Um 1470 entwickelte sich im Umfeld Giovanni Bellinis die Praxis, Maria hinter einer Brüstung zu platzieren. Klein-Jesus steht oft vorne auf dem Mäuerchen. Ganz so, als wolle er aus der Sphäre des Gemäldes in die Realität des Betrachters hinaustapsen. Einen Dialog mit dem Hier und Jetzt führt auch Carpaccios »Lesende Maria«. Hingabe an die Lektüre und zeitgenössische Kleidung weisen das Andachtsbild als Identifikationsangebot für die Damen der Oberschicht aus. Es geht nicht mehr darum, die Heiligen zu überhöhen, sondern sich in ihnen wiederzufinden.

Carpaccios leider nur als Reproduktion gezeigter »Zyklus zum Leben der heiligen Ursula« (1490/95) inszeniert das Wirken der Märtyrerin als quirlige Alltagsreportage. »Hier ist was los!«, schallt es aus den Menschenansammlungen heraus. Alle sind gekommen. Seemänner und Kaufleute, Kirchenvertreter und staatliche Würdenträger. Weit aufgespannt, erinnern die architektonischen Kulissen mit ihren Arkaden, Brücken und Kirchen höchst absichtsvoll an Venedig. Wehende Fahnen erzeugen das Gefühl einer frischen Brise, die draußen vom offenen Meer in die Dogenstadt hereinweht.

In Venedig wird die Malerei wetterfühlig. Ausgerechnet die Stadt, in der schon vor 500 Jahren kaum ein Baum wuchs, entdeckt die Landschaft als Stimmungsträgerin. Die grünen Hügel, die menschenfreien Buchten, die sich hinter mancher Gottesmutter bis zum Horizont erstrecken – sie boten kontemplative Momente, die am Canal Grande mit seinen pompösen Fassaden selten waren. Das Durcheinander der ein- und auslaufenden Galeeren an der Riva degli Schiavoni hatte dagegen schon etwas vom Overtourism der Gegenwart: Hektik, Lärm und Schmutz.

Für den sogenannten Augenzeugenstil, als dessen Urheber Carpaccio und Co. gelten, gehören Schönheit und Schrecken eng zusammen. In seiner Altartafel »Der heilige Georg bezwingt den Drachen« (1516) begnügt sich Carpaccio nicht nur damit, den Lanzenkampf des Ritters gegen das Echsenuntier zu schildern. Auch die auf dem Boden verstreuten Leichenteile der zerfleischten Opfer sind Element des Bilddramas. Soll doch der bluttriefende Detailrealismus die Legende aus der mittelalterlichen Drachenwelt beglaubigen und die moralische Aussage verstärken. Augenzeugen schauen niemals weg.

»Carpaccio, Bellini und die Frührenaissance in Venedig«, bis zum 2. März 2025, Staatsgalerie Stuttgart

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