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Streit ums russische Erbe

In Odessa sollen Straßen umbenannt und Denkmäler abgerissen werden, was zu einem Streit über die Ausrichtung der Ukraine führt

  • Bernhard Clasen, Odessa
  • Lesedauer: 7 Min.
Das Puschkin-Denkmal gehört zum Unesco-Weltkulturerbe. Gouverneur Oleg Kipper will es abreißen lassen, aber der Bürgermeister von Odessa, Hennadij Truchanow, ist strikt dagegen.
Das Puschkin-Denkmal gehört zum Unesco-Weltkulturerbe. Gouverneur Oleg Kipper will es abreißen lassen, aber der Bürgermeister von Odessa, Hennadij Truchanow, ist strikt dagegen.

Die Worte meiner Vermieterin – »Bestellen Sie Ihr Taxi direkt zur Wohnung in der Katerinenstraße« – klangen noch in meinen Ohren, als ich am Bahnhof von Odessa ankam und in meiner Taxi-App genau diese Adresse als Fahrtziel eingab. Die Katerinenstraße, eine der berühmtesten Straßen von Odessa, war mir als klare Orientierung von meinen letzten Odessa-Besuchen im Gedächtnis. Doch die App konnte die Katerinenstraße nicht finden. Erst ein Blick auf den Google-Navigator zeigte mir den Namen. Nach einem weiteren Anruf bei meiner Vermieterin hatte ich begriffen: Die auf der Taxi-App angebotene Europäische Straße und die im Google-Navigator vorhandene Katerinenstraße sind ein und dieselbe Adresse. Bei dem Tech-Giganten ist die Diskussion über Straßennamen und Schleifung von Denkmälern in Odessa, die die Gemüter der Einwohner seit Monaten erhitzt, noch nicht angekommen.

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In der Bevölkerung von Odessa wächst der Unmut. Ende Oktober wandten sich 116 prominente Persönlichkeiten, Ukrainerinnen und Ukrainer aus dem In- und Ausland an die Generaldirektorin der Unesco, Audrey Azoulay, um sie zu bitten, sich gegen den Abriss von Denkmälern einzusetzen und den Umbenennungen von Straßen Einhalt zu gebieten. Unter den Unterzeichnern finden sich der weltberühmte Pianist Alexej Botwinow, der Kaukasus-Spezialist Thomas de Waal, der Journalist Leonid Schtekel, der Charkiwer Architekt Maxim Rozenfeld oder die Künstlerin Olga Jarowa.

Diese Intervention zeigt, dass die Diskussion um die Entscheidung von Oleg Kiper, dem Chef der Militäradministration des Gebiets Odessa, längst nicht abgeschlossen ist. Kiper beabsichtigt, in der Region Odessa 432 Straßen, Plätze und Gassen umzubenennen – darunter 85 Namen allein in der Stadt – und hat damit schon begonnen. Der Duma-Platz in Odessa heißt jetzt Börsenplatz, die Leo-Tolstoi-Straße soll den Namen der berühmten Regisseurin Kira Muratowa tragen.

In einer ukrainischen Stadt, so Gouverneur Kiper, dürften keine Straßen mehr nach Personen benannt werden, die von Putin Medaillen erhalten, mit dem KGB zusammengearbeitet oder das sowjetische und imperialistische Erbe verherrlicht haben. Das heutige Odessa solle Menschen gewidmet sein, insbesondere jungen Menschen, die ihr Leben für die Unabhängigkeit geopfert haben, sowie zeitgenössischen Künstlern, Schriftstellern und Dichtern.

»Jetzt hat die südliche Perle der Ukraine die historische Chance, sich von imperialistischen Narrativen zu lösen und zu einer modernen, kulturell unabhängigen ukrainischen Stadt zu werden«, zitiert die öffentlich-rechtliche Plattform »Suspilne« den Gouverneur. »Wer durch Straßen mit imperialistischen Namen schlendern möchte, kann dies in Moskau oder Ufa tun, aber nicht in Odessa.«

Doch nicht jeder unterstützt diese Pläne. Odessas Bürgermeister Hennadij Truchanow ist gegen die Umbenennungen. Er sieht darin eine Bedrohung für die Identität der Stadt und startete eine Umfrage. 95 278 Menschen stimmten dabei gegen, 93 641 für die Umbenennungen. Die Meinungen sind also gespalten.

Journalistin Alija Samtschinska vom lokalen Internetportal »Dumskaya.net« befürwortet die Umbenennungen, obwohl sie russischsprachig aufgewachsen ist, eine russische Mutter und einen armenisch-aserbaidschanischen Vater hat. Für sie hat das Andenken an russische Persönlichkeiten in einer ukrainischen Stadt keinen Platz mehr, solange der Krieg andauert. »Puschkin steht derzeit für den russischen Imperialismus und nicht für seine literarischen Werke«, erklärt sie. Samtschinska betont zudem, dass es keine Diskriminierung gegen russischsprachige Ukrainer gäbe. Ihrer Meinung nach sollten alte Traditionen, die Russland in einem positiven Licht zeigen, keinen Einfluss auf die Zukunft von Odessa haben. Die Stadt solle vielmehr den Blick nach vorne richten.

Anastasia Piliavsky, Kolumnistin und Dozentin für Anthropologie und Politik am King’s College London, die zwischen Odessa und London pendelt, vertritt eine andere Meinung: Die Auslöschung des Kulturerbes von Odessa, Umbenennungen und Denkmalabrisse gefährden das Image der Ukraine als demokratischen und verantwortungsbewussten Rechtsstaat. Und deswegen hat sie sich dazu entschlossen, einen offenen Brief an die Unesco zu initiieren. In diesem Schreiben bitten die Unterzeichner die Generaldirektorin der Unesco, Audrey Azoulay, an den Präsidenten Wolodymyr Selenskyj heranzutreten, die Entscheidung bis zum Kriegsende aufzuschieben und keine Tatsachen zu schaffen. Erst dann seien Debatten von Fachleuten und öffentliche Anhörungen möglich.

Im Januar 2023 wurde die Altstadt von Odessa von der Unesco zum Welterbe erklärt und zugleich in die Liste des gefährdeten Menschheitserbes aufgenommen, weil die Stadt immer wieder Ziel von russischen Angriffen ist. Das beschlossene Gesetz zur Entkolonialisierung schließt eigentlich Orte des Weltkulturerbes aus, aber tatsächlich gibt es in der Altstadt Pläne für Umbenennungen, so soll ein Denkmal von Alexander Puschkin abgerissen werden. Die Unesco hat angekündigt, sich auf der nächsten Sitzung des Welterbekomitees im Juli 2025 mit dem Konflikt in Odessa zu beschäftigen.

»Dieser Umgang mit einem Weltkulturerbe schadet der Reputation der Ukraine«, erklärt Piliavsky. Das wirke sich nachteilig auf den internationalen Zuspruch für das Land aus. »Wenn unsere Einstellung zum Welterbe an die Vorgehensweise der Taliban erinnert, wird sich dies sowohl auf die aktuelle militärische Unterstützung als auch auf die Aussichten der Ukraine auf den Wiederaufbau nach dem Krieg auswirken«, ist Piliavsky überzeugt.

Odessa sei nicht nur europäisch, multiethnisch und kosmopolitisch, sondern gleichzeitig eine freiheitsliebende und antiimperiale Stadt – »im russischen Imperium genauso wie in der Sowjetunion«, erläutert Piliavsky. Odessa sei kein Problem für die Ukraine, wie es oft von ethno-nationalistischen Aktivisten dargestellt werde, vielmehr biete die Stadt Lösungen »für das nationale Problem der Ukraine, die nie monoethnisch und monolingual war«, ist sich Piliavsky sicher.

Viele der Namensgeber, die aus dem Stadtbild verbannt werden sollen, waren tatsächlich Dissidenten und Gegner der Herrscher in Moskau. Ilja Ilf und Jewgeni Petrow haben sich über die Sowjetunion lustig gemacht; Isaak Babel war wegen seiner Kritik an der Roten Armee unter Stalin erschossen worden; Alexander Puschkin wurde wegen seiner kritischen Äußerungen gegenüber dem Zaren nach Odessa verbannt; und Fürst Michail Woronzow vertrat sehr liberale Ideen.

Wer das Russische aus Odessa auslöschen will, so Piliavsky, stimme Putins Sichtweise zu, dass alles Russische Russland gehöre. »Und das ist bestenfalls ein großer Fehler, schlimmstenfalls ein Übernehmen der Rhetorik des Feindes.« Sie zieht einen Vergleich mit Großbritannien: »Allen ist klar, dass nicht alle Englisch Sprechenden zu England gehören. Englisch spricht man in Indien, in Kanada, Südafrika, Ghana und Australien. Ohne zu England zu gehören.«

Piliavsky ist eine starke Stimme, die dem nationalistischen Diskurs widerspricht, der seit Beginn der russischen Invasion im Februar 2022 dominant in der Ukraine geworden ist. Das war zweifellos nicht immer so. Noch bei den letzten Präsidentschaftswahlen 2019 herrschte ein anderes Stimmungsbild. Da stimmten 73 Prozent der Ukrainer für Selenskyj, einen russischsprachigen Kandidaten, der auf einer hyperliberalen, multiethnischen, mehrsprachigen und europäisch ausgerichteten Plattform kandidierte. Der Krieg mit seinen Gräueln hat aber Spuren hinterlassen. Inzwischen haben die russischsprechenden Ukrainer Angst, dass man sie als »Russen« wahrnimmt – in Russland und der Ukraine.

Piliavski hält es sogar für möglich, dass die Spannungen im Land zu einem Bürgerkrieg eskalieren, wenn es der Regierung nicht gelingt, gleiche Bedingungen für russischsprachige Ukrainer zu schaffen. Besorgt ist sie darüber, dass Flüchtlinge aus dem Donbass, die durch den russischen Terror alles verloren haben, an ihrem neuen Wohnort in der Ukraine mit Misstrauen konfrontiert werden. »Wir brauchen eine liberale, offene, europäische Ukraine, in der sich alle Ukrainer zu Hause fühlen«, lautet daher ihr Appell. »Wo es keine eigenen und fremden, richtigen und falschen Ukrainer gibt. Odessa sollte eine kosmopolitische und multinationale Stadt bleiben und die Ukraine ein großer, multiregionaler und multivokaler Staat.«

»Puschkin steht derzeit für den russischen Imperialismus und nicht für seine literarischen Werke.«

Alija Samtschinska Journalistin
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