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Journalismus: Danke für nichts, deutsche Kollegen
Journalisten in Deutschland stehen für nichts, findet Julian Daum. Realitäten beschreiben sie nur unter Berufung auf Autoritäten.
In der Süddeutschen Zeitung stand vor einigen Tagen, der Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs gegen Israels Premierminister Benjamin Netanjahu sei nicht antisemitisch. In der Tagesschau sprachen Korrespondent*innen ausführlich über die Hintergründe der Haftbefehle, die auch den ehemaligen Verteidigungsminister Yoaw Gallant betreffen. Und im Spiegel wurde argumentiert, dass eben das humanitäre Völkerrecht sogenannte Staatsräson sein sollte und nicht, Israels Spitzenpolitiker zu schützen.
Was ist auf einmal los? Journalist*innen in Deutschland schreiben kritische Kommentare und sprechen ausführlich über die Verfehlungen der Mächtigen in Israel? Kurz, sie machen wieder ihren Job? Könnte es an Umfragen wie jener des Medienmagazins Zapp liegen, die dem deutschen Journalismus einen hohen Vertrauensverlust aufgrund unterirdischer Nahostberichterstattung bescheinigte? Wurde die seit über einem Jahr massenhafte, zum Teil flehende Kritik von Leser*innen auf Social Media etwa endlich ernst genommen?
Julian Daum ist Journalist und lässt manchmal kein gutes Haar an den Kolleg*innen in Deutschland. Grund dafür gibt es leider immer häufiger.
Wer im vergangenen Jahr nämlich zu diesem Thema ausschließlich Tagesschau, Heute und Co. konsumiert hat, wurde schlecht, mis- und desinformiert. Innerhalb einiger Redaktionen, so hört man, rumorte es deswegen wenigstens ein bisschen. Und jetzt gibt es also hin und wieder tatsächlich einen Beitrag in deutschen Leitmedien, der die Idee des Journalismus nicht vollständig ins Groteske verzerrt. Vor allem nach den Haftbefehlen gab es davon kurzzeitig einen Anstieg. »Do you have a written document?«, fragte im März ein Tagesspiegel-Kollege die UN-Sonderberichterstatterin für Palästina, Francesca Albanese, als sie von vernünftigen Gründen sprach, in Gaza von einem Genozid auszugehen. Jetzt, da die Ankläger*innen in Den Haag bei Netanjahu von Kriegsverbrechen ausgehen und dem offiziell per Haftbefehl Ausdruck verleihen, offenbart sich die historische Fixierung der Deutschen auf den bürokratischen Ausdruck von Autorität und Obrigkeit – und nicht etwa auf legitime Kritik.
Aber egal, endlich wieder guter Journalismus! Oder? Was ich vor allem sehe, ist nicht mehr als das Mindeste. Redaktionen und Journalist*innen, die nach über einem Jahr eigentlich unverzeihlicher Verfehlungen, sprich: Auslassungen, Verzerrungen, Voreingenommenheit, Missachtung der Sorgfaltspflicht und dreister, einseitiger Copy-Paste-Wiedergabe von Kriegspartei-Inhalten, sich wieder kurz daran erinnert haben, was ihr Job eigentlich ist. Nämlich, nach bestem Wissen und Gewissen sagen, was ist, um Macht und Mächtige in Verantwortung zu nehmen.
Nun müssen sie nicht einmal mehr das Risiko eingehen, von anderen Journalist*innen oder Politiker*innen verunglimpft zu werden, wenn sie ihren Job richtig machen, wenn es von höchst offizieller Stelle ein Dokument gibt, auf das man sich berufen kann. Erst mit diesem Dokument scheinen die Brutalität und die Menschenverachtung der Netanjahu-Regierung eine Realität geworden zu sein, über die man sprechen kann.
Die Florians und Leonies können nun risikofrei auch einmal tun, was vor allem migrantisch gelesene und freie Kolleg*innen, sowie jene, die in kleinen, unabhängigen Redaktionen ums Überleben kämpfen, seit Monaten tun: Die Realität in Gaza, dem Westjordanland und im Libanon beschreiben, über die Kriegsverbrechen, das Aushungern, das anlasslose Morden in der Zivilbevölkerung sprechen. Aus der Sicherheit ihrer Festanstellungen heraus haben teilweise übrigens dieselben Leute eben jene Kolleg*innen mit Häme und Diffamierungen überschüttet, die aufgeklärt haben, haben palästinensische Kolleg*innen in Gaza in die Nähe von Terrorismus gerückt, Kolleg*innen in Deutschland als Judenhasser und Terrorverherrlicher verunglimpft, sodass viele von ihnen Jobs verloren oder Aufträge wegbrachen.
Nun erinnern sie sich daran, was einmal in ihrer Jobbeschreibung stand. Wann werden sie es wieder vergessen? Bei der Ausrufung der nächsten Staatsräson? Die wenigen Kolleg*innen, die das zwischenzeitlich nicht vergessen haben, machen derweil weiter: Unter Lebensgefahr in Gaza, in der Westbank und im Libanon oder hier in Deutschland, schlecht oder unbezahlt auf ihren eigenen Social Media Kanälen und den kleinen, unabhängigen Redaktionen, die ums Überleben kämpfen.
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