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Mit Marx für Waffenlieferungen?

Ein Interview mit dem Sozialwissenschaftler Timm Graßmann über Marx' Haltung zu Nation und Nationalismus - und deren Anwendung auf den Ukrainekrieg

  • Interview: Sebastian Klauke
  • Lesedauer: 7 Min.
Ein Plakat aus dem Jahr 1980 verwendet Marx’ Bezug auf die Nation, um den Nordirland-Konflikt zu bebildern.
Ein Plakat aus dem Jahr 1980 verwendet Marx’ Bezug auf die Nation, um den Nordirland-Konflikt zu bebildern.

Sie arbeiten als Editor an der MEGA und haben 2022 mit »Der Eklat aller Widersprüche: Marx’ Theorie und Studien der wiederkehrenden Wirtschaftskrisen« Ihre Dissertation als äußerst lesenswertes Buch veröffentlicht. Woher stammt in diesem Kontext die Idee für Ihr aktuelles Buch?

Russlands Vollinvasion der Ukraine hat mich zutiefst schockiert und fassungslos gemacht. Im Zuge meiner täglichen Arbeit an den Marx’schen Manuskripten wurde mir dann zunehmend klar, von welch großer Bedeutung schon für Marx die gleiche Frage war, mit der wir uns seit dem 24. Februar 2022 befassen müssen. Wie geht man mit einem autokratischen russischen Imperium um, das gezielt die emanzipatorischen Bestrebungen in Osteuropa zerstört, die reaktionären Kräfte im Westen unterstützt und mit seinen militärischen Übergriffen eine Bedrohung für den ganzen Kontinent darstellt? Marx verfasste gar eine 140-seitige Artikelserie über den Ursprung der russischen Autokratie und ihres eigentümlichen Expansionismus, die dann später absichtlich nicht in die MEW aufgenommen wurde und die bislang in noch keiner Rekonstruktion der Marx’schen Staatstheorie ausgewertet worden ist.

Interview

Timm Graßmann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Marx-Engels-Gesamt­ausgabe. Sein Buch »Marx gegen Moskau. Zur Außenpolitik der Arbeiterklasse« (Schmetterling-Verlag, 222 S., br., 16,80 €) erschien im Oktober.

Sie zeigen, dass die Wiederherstellung Polens eines der wichtigsten politischen Anliegen von Marx war. Welche Bedeutung hat die Kategorie der Nation für Marx? Und was macht dabei den Kern der Außenpolitik aus, wie er sie in der Internationalen Arbeiterassoziation (IAA) für die Arbeiterklasse entwickelt hat?

Marx war optimistisch, dass eine proletarische Revolution nationale Gegensätze überwinden würde. Eher implizit hat er Nationalität als eine Grundlage der modernen Demokratie aufgefasst, und das war keinesfalls rein negativ konnotiert. Auch wenn er ihre Grenzen herausarbeitete, bezeichnete Marx die politische Emanzipation (Volkssouveränität, Menschenrechte, Gewaltenteilung), die sich etwa nach der amerikanischen Unabhängigkeit und der Französischen Revolution ausbreitete, als »großen Fortschritt«. Vereinfacht gesagt, weil sie mit Absolutismus und Theokratie der alten Welt Schluss machte und eine – wie auch immer beschränkte – Form von politischer Gleichheit bedeutete.

In seinen außenpolitischen Kämpfen sehen wir Marx daher für die Selbstbestimmung demokratischer Republiken eintreten. Dabei ging es ihm nicht allein um nationale Unabhängigkeit, sondern um politische Emanzipation, die es in einem autoritären Staat nicht geben kann. Wenn jemand die politische Emanzipation verhindern oder wieder rückgängig machen wollte, wie Louis Napoleon mit seinem Coup d’État in Frankreich oder Russland und Preußen mit ihrer Herrschaft über Polen, ging Marx auf die Barrikaden. So bemerkte er einmal ironisch, dass der Zar »durch die Unterjochung Circassien’s und die Ausrottung der Krimtartaren ja auch am ›Nationalitätsprinzip‹« arbeiten würde. Marx war in diesem Sinne nicht abstrakt antinational eingestellt. Ein unabhängiges Polen etwa, das dem russischen Imperium eine Grenze setzt, würde auf ganz Europa befreiend wirken. Friedrich Engels fomulierte das wie folgt: Polen muss national sein, bevor es international sein kann.

Was folgt aus diesen Überlegungen für das gegenwärtige Verständnis von Marx und die »Anwendung« seiner Theorie? Muss dem Politischen mehr Freiraum gegeben werden?

Auch wenn die gegenwärtigen Kriege und geopolitischen Spannungen einen Primat des Politischen anzuzeigen scheinen, darf man die kritische Analyse des Kapitalismus nicht einstellen. Mit Marx könnte man sagen, dass das Ökonomische wie ein braver Maulwurf in verborgenen Tiefen weiterwühlt und sich bestimmt bald wieder an der Oberfläche bemerkbar machen wird.
Aber Marx hat das Weltgeschehen niemals auf ökonomische Vorgänge reduziert. Er hat sich insbesondere vehement dagegen gesträubt, die pro-russische Politik der Westmächte mit den Handelsinteressen der westeuropäischen Bourgeoisie zu erklären. Er ging vielmehr davon aus, dass sich der Westen von der russischen Politik und ihrer Propaganda vereinnahmen und kaufen ließ. Umgekehrt lebte Russland für ihn wesentlich von der Manipulation einer fremden Kraft, nämlich der bürgerlichen Gesellschaft Westeuropas. Das ist ein genuin Marx’sches Verständnis des Verhältnisses zwischen Russland und dem Westen.

Man hätte also schon immer wissen können, dass Marx sich gegen Kolonialismus und die Überhöhung der »westlichen Welt« aussprach?

Ab Ende der 1860er Jahre wurde Marx auch zu einem offensiven Befürworter der Unabhängigkeit Irlands, damals de facto eine Kolonie Großbritanniens. Polen, Irland: In beiden Fällen ging es auch darum, einem Imperium das Handwerk zu legen. Hier sind zwei Dinge wichtig. Erstens, insofern Marx dem Kapitalismus am Ende seines Lebens feindlicher als noch zu Zeiten des »Manifests der Kommunistischen Partei« gegenübergestanden haben sollte, ging dies keinesfalls Hand in Hand mit einer Aufwertung des »asiatischen Despotismus« oder sonstiger autoritärer, rückwärtsgewandter Kräfte in der Welt. Bis zuletzt trat Marx auf polnischen Solidaritätskongressen auf. Zweitens kritisierte Marx England für seine unterdrückerische Kolonialpolitik in Irland und gleichzeitig dafür, keinen entscheidenden Beitrag zur Wiederherstellung Polens zu leisten. Es gibt bei Marx also keine ontologische Ablehnung »des Westens«.

Gewalt und Widerstand müssen Werkzeuge der Linken sein?

Die Gewalt als Geburtshelferin der neuen Gesellschaft? Marx und »General« Engels waren da sicherlich nicht zimperlich. Beide traten im Krimkrieg für ein stärkeres militärisches Engagement der Westmächte gegen Russland ein. Aber wichtiger als die Werkzeuge scheinen mir die Ziele. Spannend finde ich etwa die subtilen Unterschiede zwischen den beiden in der Frage nach der Zukunft Polens. Engels betonte eher die Notwendigkeit, einen wirklichen Krieg gegen die russische Autokratie zu führen. Aber Marx’ Formel in der IAA lautete buchstäblich: Der russischen Invasion Europas muss durch Wiederherstellung eines demokratischen Polens ein Ende bereitet werden. Marx’ Mittel gegen Moskau war nicht zuerst militärisch, sondern politisch, im Sinne einer vollen Unterstützung der osteuropäischen Republiken. Natürlich konnte dies militärische Konsequenzen nach sich ziehen, aber das Militärische bleibt untergeordnet. Deshalb behaupte ich, dass Marx in seiner Außenpolitik weder Militarist noch Pazifist gewesen ist.

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Führende Köpfe des Anarchismus kommen in Ihrem Buch nicht gut weg, vor allem Marx’ Gegner wie Proudhon und Bakunin erweisen sich als engstirnige, unflexible Denker. Inwiefern taugen die da noch als Vordenker freiheitlicher Ordnung?

Auch wenn man bei Proudhon und Bakunin Passagen findet, in denen sie mit Bonapartismus beziehungsweise Zarismus kokettieren, ging es mir nicht um die x-te Abrechnung mit »dem Anarchismus«. Heute haben viele Anarchisten viel besser auf die russische Aggression reagiert als viele Leute, die den Namen Marx im Mund führen und die über Russlands Angriffskrieg einfach schweigen oder ihn entweder ganz offen gutheißen oder indirekt unterstützen, indem sie dazu aufrufen, die militärische Hilfe für die Ukraine ganz einzustellen. Die Ironie liegt nicht einfach nur darin, dass selbsterklärte Anarchisten Sympathien für Formen der autoritären Herrschaft hegten, sondern dass viele heutige Marxisten in politischen Fragen viel näher an Proudhon und Bakunin stehen als an Marx.

Ansonsten muss man differenzieren. Proudhon stelle ich mir als den ersten linken »Querdenker« vor: Die Liberalen sind für, also ist Proudhon gegen Polen. Aber wenn man seinen eigenen Standpunkt allzu abhängig von anderen macht, hat man schon verloren. Bakunin dagegen war zwar mit einem russischen Überlegenheitsgefühl infiziert und konnte sich den Zaren als das Haupt einer Allianz aller slawischen »Brudervölker« vorstellen, aber er trat nicht offen gegen die polnische Unabhängigkeit ein. Er wies auf einige Leerstellen in Marx’ Polenpolitik hin. So beschäftigte sich Marx, mit Bakunins Kritik im Hinterkopf, durch die Werke des ukrainischen Historikers Mykola Kostomarov mit der Geschichte der Ukraine und ihren Unabhängigkeitskämpfen im 17. Jahrhundert. Bakunin hatte insistiert, dass ein wiederhergestelltes Polen kein Recht auf die Ukraine hätte.

Gibt es derzeit ein politisches Forum, das in Fragen der Außenpolitik der IAA nachfolgen kann? Wo und mit wem müssen die Diskussionen geführt werden?

Außenpolitik war für Marx nicht gleichbedeutend mit Staatspolitik. Ein linker proukrainischer Kongress steht, soweit ich weiß, noch aus.

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