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Frauen in Afghanistan: Popmusik im Kontrollraum
Verbote, Willkür – und Rebellion: Soraya Sadeqi schildert ihre Erlebnisse auf einer Reise durch Afghanistan
Unsere Autorin ist im Spätsommer 2024 zwei Wochen durch Afghanistan gereist. Sie ist in dem Land aufgewachsen und lebt seit 16 Jahren in Deutschland. Die Essayistin hat den Text unter einem Pseudonym geschrieben, um andere Menschen nicht in Gefahr zu bringen.
Beim Landeanflug auf Kabul versuche ich, vertraute Orte wiederzuerkennen. Neben mir beißt eine Frau in ihr selbstgemachtes Sandwich. »Alles hat sich verändert«, sagt sie.
Dass Afghanistan sich verändert hat, liegt auf der Hand. Dass in der Veränderung auch eine Kontinuität liegt, ebenfalls. Anfang der 1990er-Jahre lösten die Taliban die sich gegenseitig bekriegenden Mujaheddin ab. Diese hatten zuvor das von der Sowjetunion unterstützte sozialistische Regime mithilfe des »Westens« zu Fall gebracht. Kein Jahrzehnt später wurde das Emirat der Taliban im Zuge von 9/11 und dem »War on Terror« von der Nato abgelöst und durch eine kleptokratische Republik ersetzt, die mit dem Abzug der Nato 2021 wieder an die Taliban fiel.
Anders als während der ersten Herrschaft der Taliban sind die Straßen in den Städten voll und belebt. Kleinwagen mit Hybridantrieb drängeln sich im stockenden Verkehr zwischen schweren SUVs. Das Hupen der Fahrzeuge wird nur von den Marktschreiern unterbrochen, die ihre Ansagen aufgezeichnet und über kabellose Lautsprecher in einer Wiederholungsschleife abspielen. Saisonales Obst, importiertes Gemüse. Massenproduktion und Unterhaltungselektronik. Auf den Märkten sind kaum Frauen anzutreffen. Einige Tragen den Hijab leicht über dem Kopf, einige zusätzlich eine schwarze Maske über dem Gesicht.
In den 1990ern erbten die Taliban eine weitestgehend zerstörte Hauptstadt. Drei Jahrzehnte später: Angebot und Nachfrage, dekadent wirkende Paläste und Hochhäuser mit bunten Spiegelfassaden inmitten bitterer Armut. Nichts kann Kabul stärker orchestrieren. Die Fülle des Angebots könnte nicht ungleicher verteilt sein. Eine Kontinuität, die sich verschlimmert hat. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung Afghanistans leidet Hunger.
Veränderung und Kontinuität sind ein Abbild der Entwicklung der vergangenen dreißig Jahre. Der Bürgerkrieg führte Anfang der 90er-Jahre zu einem Exodus, bei dem Millionen Menschen in Nachbarländer wie Pakistan und Iran flohen. Nach dem Fall des ersten Taliban-Regimes kehrten viele zurück. Andere wiederum flohen aus den afghanischen Provinzen in die Städte. Denn in den ländlichen Regionen fanden die meisten Kriegshandlungen und -verbrechen im Zuge der Besatzung durch die Nato statt. Mit der Hoffnung auf Schutz und bessere Chancen zog es viele nach Kabul, da besonders viele Mittel in urbane Zentren flossen. Naturkatastrophen und die Rückkehr und Abschiebungen aus Nachbarländern trieben zusätzlich Menschen in die Stadt, darunter viele, die Afghanistan und Kabul zuvor nie als Heimat kannten. Kabul wurde so zu einem Schmelztiegel der Sprachen, Dialekte und Geschmäcker, in dem das alte Kabuli nahezu verschwunden ist. Seit 2001 hat sich die Bevölkerung Kabuls verfünffacht. Die meisten leben in informellen Siedlungen. Das Stadtbild ist extrem verändert und für viele Rückkehrer*innen nicht mehr wiederzuerkennen. Auch ich gehöre dazu.
Alltagsrebellion
Checkpoints für Fahrzeuge prägen das Stadtbild. Sie stehen an großen Kreuzungen, vor Regierungsgebäuden oder dort, wo Menschenmengen erwartet werden. Die herrschende »Sicherheit« und Ordnung durch Kontrolle abzusichern ist ein zentrales Anliegen der Taliban. Der Fahrer lenkt das Auto in Richtung eines Kontrollpunkts, während ich meine Ärmel lang ziehe. Mein männlicher Begleiter legt vorsorglich seine Jacke über die Kamera. Routine. Wir werden schnell durchgewunken.
Auf Überlandfahrten fügt sich eine weitere Routine hinzu: Zwischen den weit auseinanderliegenden Checkpoints wird im Auto Musik gespielt – trotz des Verbots, das die Taliban auf instrumentale Musik verhängt haben. Die ersten Tage nach dem Sturz der Republik waren geprägt von Bildern zerstörter Musikinstrumente. Diese Zerstörungen wurden häufig dokumentiert und als politische Botschaft verbreitet und kursieren auf Sozialen Medien. Fahrer wurden angewiesen, keine Musik in Fahrzeugen abzuspielen. Doch das Umgehen solcher Regeln gehört längst zum Alltag. Dazu gehört Musik im Auto. Sobald ein Kontrollpunkt in Sicht kommt, drückt der Fahrer auf die Stopptaste. Ich ziehe die Ärmel über die Hände, mein Begleiter deckt die Kamera ab.
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Eine andere, surreale Situation erlebte ich vor einem Behördengang. Ich musste eine Sicherheitskontrolle für Frauen passieren – in einem Container abseits des Hauptgebäudes. Als ich die Tür öffnete, wurde ich von einer dichten Rauchwolke und den Klängen afghanischer Popmusik empfangen. Zwei junge Frauen saßen lässig auf Stühlen, Zigaretten in der Hand. Sie musterten mich, und eine meinte schließlich: »Deutschland? Journalistin?« Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. Beinahe spöttisch. Ein Raum, der von den Taliban zur Kontrolle von Frauen vorgesehen war, wurde zu einer Bühne afghanischer Weiblichkeit, die nonchalant alles infrage stellte.
Als Auslandsafghanin habe ich das Privileg, das Land zu bereisen und zurückzukehren, ich bin Teil des hierarchischen Systems. Die beiden richteten eine präventive Botschaft an mich. An die, die möglicherweise glaubt, durch ihr Leben in Deutschland emanzipiert zu sein und die zeitgleich auch noch den Frauen in Afghanistan in den Rücken fallen könnte – wie viele Rückkehrer*innen, die die desolate Lage trivialisieren, etwa, indem sie Fotos ihrer Lieblingsgerichte posten oder ihren Verwandten sagen, wie sicher sie sich fühlen – als Besucherinnen mit ausländischen Pässen. Dass ich diese Szenerie eher genossen habe, als sie als persönlichen Angriff zu werten, musste nicht ausgesprochen werden und hätte auch keine Rolle gespielt.
Eine von ihnen lächelte, die andere zwinkerte, nachdem sie mich abgetastet hatten. »Viel Erfolg, Schwesterchen«, sagten sie, bevor ich weiterging. Eine Erinnerung daran, dass Widerstand und Emanzipation nicht immer sichtbar und laut sind und dass eine Welt niemals vollständig kontrollierbar ist.
Als ich später Freund*innen davon berichtete, wurde ich gefragt, ob es sich um Kollaborateure handelt, die über den Restriktionen der Taliban stehen. Ich bin überzeugt, dass das nicht so ist. Denn die Taliban sind trotz ihrer Versuche, Frauen in die ökonomische Abhängigkeit von Männern zu bringen, auf Frauen angewiesen, die weiterhin im öffentlichen Dienst tätig sind. Und es wäre undenkbar, dass die Taliban in die Container kommen, ohne sich vorher anzukündigen, da es den gesellschaftlichen, aber auch ihren eigenen Regeln zuwiderlaufen würde.
Ausschluss von Frauen
In der Berichterstattung über Afghanistan wird das Land häufig als Negativbeispiel hinsichtlich der grundlegenden Frauenrechte dargestellt. Afghanische Frauen erscheinen oft als passive Opfer, was kaum zu kritisieren ist, erst recht nicht nach der Einführung neuer Direktiven des »Ministeriums für die Förderung der Tugend und die Verhinderung des Lasters« im Spätsommer dieses Jahres. Bereits seit der Machtübernahme der Taliban werden Frauen und Mädchen systematisch aus dem öffentlichen Leben verdrängt. Berufs- und Ausbildungsverbote verstärken diesen Ausschluss und treiben sie in die gesellschaftliche Abhängigkeit. Beispiele verdeutlichen diese Realität: Eine Schülerin wiederholt die sechste Klasse zum dritten Mal, da Mädchen ab der siebten Klasse keine Schule mehr besuchen dürfen. Eine ehemalige Medizinstudentin wird von den Abschlussprüfungen ausgeschlossen.
In einem Land, in dem bereits vor den Taliban aufgrund ökonomischer Machtgefälle, Krieg und Vertreibung weiten Teilen der Bevölkerung der Zugang zu Bildung verwehrt war, verschärfen die aktuellen Maßnahmen die prekäre Situation und belasten auch das fragile soziale Gefüge des Landes erheblich – ein Ausmaß, das sich nicht allein in Zahlen fassen lässt.
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Während meiner Reise durch Afghanistan wurde mir gleichzeitig immer wieder die Komplexität und Widersprüchlichkeit der Zustände vor Augen geführt, die für viele nicht greifbar sind, wenn sie das Land und sein gesellschaftliches Gefüge nicht kennen oder bewusst verkennen wollen. Regeln werden nicht immer befolgt – etwa das Bedecken des Gesichts. Die Regeln werden auch nicht immer durchgesetzt, besonders nicht von den Fußsoldat-Taliban. Mitarbeiter des »Tugendministeriums«, häufig in der Berichterstattung »Moralpolizei« genannt, setzen dagegen die Regeln rigide durch. In Afghanistan nennt man sie »Weißkittel«, da sie über ihrer regulären Kleidung weiße Laborkittel tragen.
Systematische Willkür
Gleich am ersten Tag meiner Reise wurde ich in Kabul durch Weißkittel auf der Straße zurechtgewiesen. Ich solle mich anständig kleiden. Für dasselbe Outfit – ein weites schwarzes Tschador-Kleid mit einem dunkelgrünen, zur Seite gebundenen Hidschab – wurde ich in der Stadt Masar-e Scharif im Norden des Landes von einem Funktionär gelobt. Nicht, dass ich danach gefragt hätte oder Aufmerksamkeit provozieren wollte. Für weitaus schickere Outfits wurden andere afghanische Frauen bei Kontrollen der Weißkittel in Restaurants nicht getadelt. Aber umso öfter kontrolliert, ob Paare Eheurkunden vorweisen können.
Willkür und Belieben stellte eine Konstante dar: Eine Reisegenehmigung vom Informationsministerium ermöglichte mir privilegierten Zugang zu Orten, die afghanischen Frauen sonst verwehrt sind – beispielsweise zu öffentlichen Parks. Trotz Genehmigung der lokalen Behörden wurde uns jedoch der Besuch des Nationalparks der berühmten Band-e-Amir-Seen verwehrt. Auch der Zugang zum Friedhof in meinem Heimatdorf, auf dem meine engsten Verwandten begraben liegen, wurde mir nicht erlaubt.
Während unserer Reise sind uns immer wieder Tourist*innen begegnet. Die Gästebücher in historischen Stätten und Museen dokumentierten Namen aus China, den USA, Frankreich und Russland. Auch aus Deutschland. Nach Angaben der Taliban wurden mehr als 3000 touristische Reisen während des Spätsommers in einem Monat verzeichnet. Eine somalische Reisebloggerin, der ich ein paar Mal in Kabul begegnet bin, wurde offenbar der Zugang zu den Band-e-Amir-Stauseen gewährt. Das wirft die Frage auf, wem privilegierte Zugänge gewährt werden, um die Zustände vor Ort zu trivialisieren und die Taliban zu normalisieren.
Dass die Taliban keine homogen agierende Gruppe sind und unterschiedliche Visionen für das Land haben, ist keine Neuigkeit. In einem der Ministerien wurde während unserer Anwesenheit offen von hochrangigen Mitarbeitern diskutiert, dass sie nicht mit den Entscheidungen des Tugendministeriums einverstanden sind. Taktisch schade es dem Land.
Gerade in Belangen, die Frauenrechte betreffen, etwa die Frage der Bildung von Frauen, herrscht Uneinigkeit. Vizeaußenminister Abbas Stanikzai, Innenminister Sirradscheddin Haqqani und Verteidigungsminister Mullah Yaqub, Sohn des mittlerweile verstorbenen Taliban-Führers Mullah Omar, fordern die Öffnung der Schulen für Mädchen und höhere Bildung für Frauen – ohne aber den »Supreme Leader« Hibatullah Akhundzada, der in Kandahar und nicht in Kabul sitzt, offen zu kritisieren, dessen Gefolge ideologische Hardliner sind. Dass ausgerechnet Innenminister Haqqani die Öffnung der Schulen fordert, hat in Teilen der Diaspora Entsetzen ausgelöst: Er ist für brutale terroristische Anschläge verantwortlich, auf ihn ist immer noch ein Kopfgeld von 10 Millionen US-Dollar vom FBI ausgesetzt.
Nachdem wir in Kabul angekommen waren, wurden wir recht bald vom Geheimdienst GDI vorgeladen. Meine Reisebegleitung wurde nicht verhört, ich wurde hingegen in einem japanischen Kleinwagen mit schwarz getönten Fensterscheiben und ohne Kennzeichen etwa eine Stunde lang verhört. Angeblich zu meiner eigenen Sicherheit. Wie Angaben zu meiner Familie und die Frage, was ich für die Taliban in Deutschland tun könne, zu meiner Sicherheit beitragen sollen, bleibt fraglich. Vielleicht war es eine reine Machtdemonstration – er ließ uns jedenfalls gehen. Unwohl war mir dennoch, vor allem als er sich anschließend zu sehr für einen unserer Fahrer interessierte. Ich wollte mit meiner Reise nicht riskieren, dass meinen Familienangehörigen oder all jenen, die mich unterstützt haben, ein Schaden zugefügt wird.
Mir wurde einmal mehr bewusst, dass es verantwortungslos wäre, über die Verhältnisse in Afghanistan zu schreiben, ohne mögliche Konsequenzen für andere zu bedenken. Jede der bitteren und auch schönen Momente sind nicht in einem luftleeren Raum entstanden. Gleichzeitig wurden mir immer wieder meine eigenen Privilegien vor Augen geführt. Trotz erheblicher Einschränkungen habe ich Wege beschritten, die heute für die allermeisten afghanischen Frauen vor Ort unerreichbar sind.
Es ist wichtig, über die Binarität und Unterkomplexität hinauszuschauen, in der Afghanistan ideologisch und narrativ gefangen gehalten wird. Ich kann eine Rückkehr trotz aller Herzensbrüche nicht abwarten.
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