- Politik
- Herrschaft der Taliban
Afghanistan: Restriktiver und versierter
Wie sich die Herrschaft der Taliban verändert hat
In vier Kapiteln und 35 Artikeln haben die islamistischen Taliban zusammengefasst, welche Rolle sie den Frauen in der afghanischen Gesellschaft zudenken. Seit dem 31. Juli dieses Jahres dürfen Frauen in Afghanistan nicht mehr in der Öffentlichkeit singen und nicht zu laut sprechen; sie müssen sich vollständig verhüllen, auch das Gesicht. All diese unmenschlichen Einschränkungen sind festgeschrieben in einem neuen Gesetz, das bezeichnenderweise »Gesetz über die Förderung der Tugend und die Verhütung des Lasters« heißt, wie auch das entsprechende Ministerium, das sich diese frauenfeindlichen Bestimmungen wohl ausgedacht hat. Nicht alle sind neu, jetzt wurden die Regeln, die die Präsenz von Frauen in der Öffentlichkeit betreffen, in ein Gesetz gepackt.
»Viele dieser Beschränkungen des Gesetzes waren bereits in Kraft. Aber es gibt auch neue Bestimmungen, die die Redefreiheit von Frauen in der Öffentlichkeit einschränken, zum Beispiel, dass Frauen nicht laut lesen dürfen«, sagte Zaman Sultani, Südasien-Forscher bei Amnesty International, dem »nd«.
Sind die Taliban 2.0 anders?
Die Taliban sind seit drei Jahren wieder an der Macht und wenden substanziell die gleichen restriktiven Regeln an wie schon bei ihrer ersten Regierungszeit (1996 bis 2001). Sind die Taliban von 2021, oftmals flapsig als Taliban 2.0 gelabelt, also genauso frauenfeindlich wie die Taliban heute? Ihren Handlungen nach zu urteilen – eindeutig ja. Darin stimmen fast alle Beobachter überein. »Es ist wie ein Déjà-vu dessen, was wir in den 1990er Jahren gesehen haben«, sagte Farkhondeh Akbari, die an der Monash University in Melbourne zu Frauenrechten forscht, dem »nd«. Sie ist selbst aus Afghanistan, gehört der schiitischen Hazara-Minderheit an und hat das Land 1998 verlassen, kehrte aber regelmäßig zurück.
Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.
»Die Rückkehr der Taliban an die Macht im August 2021 und die Art und Weise, wie sie die Macht ergriffen haben, indem sie die Frauen als Mittel zur Militarisierung ihrer Macht benutzten, um ihre Macht zu demonstrieren, war für die Frauen Afghanistans nicht überraschend«, sagt Akbari. Sie erinnert daran, dass die Taliban nun schon seit 32, 33 Jahren existieren, sie waren auch weiter da, als der Westen eingriff, sprengten Schulen in die Luft und griffen Frauen an.
Regime der Geschlechtersegregation
Erneut an der Macht hätten sie schon in den ersten Stunden die Frau öffentlich, physisch und symbolisch von den Wänden Kabuls getilgt: »Es gab Bilder von Frauen im Straßenbild und Poster von Frauen in den Geschäften. Frauen wurden vergewaltigt oder mit Farbe beworfen«, sagt Akbari. Niemand habe gewusst, wie es weitergehen würde. »Aber jeder verstand, dass die Anwesenheit von Frauen eine Gefahr für die Taliban darstellen würde.«
Farkhondeh Akbari betont, dass es doch eine Veränderung zur ersten Taliban-Regierung in Afghanistan (1996-2001) gibt, doch anders, als man vielleicht erwartet hätte. »Wenn man über die Ideologie und die Geschlechterpolitik der Taliban 2.0 spricht, sind sie sogar noch viel restriktiver geworden als zuvor. Aber in Bezug auf ihre Fähigkeiten in Kommunikation und Diplomatie sind sie jetzt viel versierter«, betont Akbari. Davon haben die afghanischen Frauen und Mädchen nichts, diese leiden seit August 2021 unter einem Regime der Geschlechtersegregation, wie es wohl einzigartig in der Welt ist.
Verbrechen gegen die Menschlichkeit
Schon nach den ersten 100 Tagen an der Macht wurden zahlreiche Tötungen von Frauen dokumentiert, unter anderem in der nordafghanischen Stadt Masar-e Scharif. Dort wurden vier Frauenrechtsaktivistinnen ermordet, darunter eine Universitätsdozentin.
Die Menschenrechtslage in Afghanistan wird von Tag zu Tag schlechter, das bekommen insbesondere Frauen und Mädchen zu spüren, die auf Schritt und Tritt kontrolliert werden. Die frauenfeindlichen Maßnahmen der Taliban könnten laut Amnesty International möglicherweise als Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingestuft werden.
Mehr über Frauen in Afghanistan: Popmusik im Kontrollraum – Verbote, Willkür und Rebellion: Soraya Sadeqi schildert ihre Erlebnisse auf einer Reise durch Afghanistan
»Der Abbruch der Beziehungen zu den Taliban wäre das Minimum« – Ein Gespräch mit Sur Esrafil über die Geschichte der Frauenrechte und gesellschaftliche Spaltungen in Afghanistan
Afghanische Exilanten: »Das ist Gender-Apartheid«
Mädchen sind von der höheren Schulbildung ausgeschlossen, eine Vorschrift, die seit März 2022 gilt und besagt, dass Mädchen ab der 6. Klasse genug gelernt hätten für ein Leben im Emirat Afghanistan. Die Taliban hätten überhaupt kein Interesse daran, dass Frauen zur Schule gehen, sagte gegenüber dem »nd« die Frauenrechtsaktivistin Hoda Khamosh, »dann würden die Frauen nämlich verstehen, welche Rechte sie haben«. Mindestens 1,4 Millionen Mädchen in Afghanistan hätten seit Rückkehr der Taliban an die Macht im Jahr 2021 keinen Zugang zu weiterführenden Schulen, berichtete die Unesco Mitte August. Gegen die Ausgrenzung von der höheren Schulbildung sprachen sich sogar afghanische Geistliche aus, jedoch ohne Erfolg. Auch Frauen protestieren, im Untergrund oder im Internet, immer unter Wahrung der Anonymität.
Gesetz zur Ausgrenzung von Frauen und Mädchen
Das von den Taliban installierte System, das manche auch als Gender-Apartheid bezeichnen, hat die Ausgrenzung von Frauen und Mädchen aus der Gesellschaft in detaillierte Gesetzesparagrafen gegossen. In dem »Gesetz über die Förderung der Tugend und die Verhütung des Lasters« heißt es unter Artikel 13, Absatz 1: »Eine Frau ist verpflichtet, ihren ganzen Körper zu bedecken.« Dazu gehört nach Absatz 2 auch, das Gesicht zu bedecken. Das gilt speziell vor Männern, die keine engsten Verwandten sind, aber zum Beispiel auch vor Nicht-Musliminnen.
Ohne männliche Begleitung durch einen engen Verwandten dürfen sie das Haus nicht verlassen. Das bedeutet, selbst ein dringender Arztbesuch könnte so nicht wahrgenommen werden, wenn es sich beispielsweise um eine alleinerziehende Mutter handele ohne weitere Familie. Absatz 3 stieß auf besonderes Interesse bei internationalen Medien: »Frauenstimmen (in einem Lied, einer Hymne oder einem lauten Vortrag in einer Versammlung) sind auch etwas, das verborgen werden sollte.« In Reaktion darauf veröffentlichten afghanische Frauen im In- und Ausland Videos online, auf denen sie singen, veröffentlicht unter Hashtags wie »Meine Stimme ist nicht verboten« und »Nein zu den Taliban«.
Unzureichende Gegenmaßnahmen der internationalen Gemeinschaft
In Artikel 20 sind Pflichten für Dritte aufgelistet, die wiederum die Rechte von Frauen beschneiden. So dürfen Taxifahrer Frauen, die unverschleiert oder ohne Begleitung eines nahen männlichen Verwandten unterwegs sind, nicht mitnehmen. Betraft wird auch gleichgeschlechtliche Liebe sowie Anal-Sex, »auch wenn es mit der eigenen Frau ist« (Artikel 22).
Nach Ansicht des Amnesty-Forschers Zaman Sultani reichten die von der internationalen Gemeinschaft ergriffenen Maßnahmen nicht aus, um die Taliban für die systematischen Menschenrechtsverletzungen zu belangen. »Die Maßnahmen stehen nicht im Verhältnis zur Schwere der Situation. Die Lage in Afghanistan ist ernst und erfordert eine ernsthafte Reaktion.« So habe der UN-Sicherheitsrat 2023 eine Resolution zu Afghanistan verabschiedet, aber keine adäquaten Folgemaßnahmen verfügt, um sicherzustellen, dass diese Resolution von den Taliban umgesetzt wird.
Keine Aussicht auf Politikwechsel
Wer weiter darauf setzt, dass die Taliban eines Tages doch einen Kurswechsel vornehmen, sollte sich Farkhondeh Akbaris Worte merken: Über 100 Dekrete seien seit der erneuten Machtübernahme erlassen worden, um jeden Aspekt des Lebens von Frauen einzuschränken. »Drei Jahre später haben wir mehr als 200 diplomatische Gespräche mit den Taliban geführt, Millionen von Bestechungsgeldern im Namen der humanitären Hilfe an die Taliban gezahlt, um sie zu beschwichtigen und sie irgendwie zu einer Änderung ihrer Politik zu bewegen. Nicht ein einziges Dekret wurde rückgängig gemacht.«
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.