Neue Ängste belasten Heranwachsende

Studie: Die seelische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen ist schlechter als vor der Pandemie

Migrationshintergrund als Risikofaktor für psychische Krankheiten: Auch Erfahrungen auf der Flucht können Kinder traumatisieren. Dieses Bild malte ein Kind aus dem Irak.
Migrationshintergrund als Risikofaktor für psychische Krankheiten: Auch Erfahrungen auf der Flucht können Kinder traumatisieren. Dieses Bild malte ein Kind aus dem Irak.

Seit dem Ende der Corona-Pandemie dürfte es nicht mehr umstritten sein: Kinder und Jugendliche haben unter den Eindämmungsmaßnahmen unnötig gelitten. Vor allem Schulschließungen führten bei vielen von ihnen zu psychischen Belastungen. Jetzt gibt es neue Daten dazu, und diese besagen: Die Belastungen sind nicht wieder auf das Niveau vor der Pandemie zurückgegangen, sondern immer noch höher als 2019.

Zeigen können dies Wissenschaftler vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) um Ulrike Ravens-Sieberer mit den Ergebnissen einer systematischen Umfrage in Familien. Ursprünglich sollte die sogenannte Copsy-Studie (Corona und Psyche) vor allem die Auswirkungen der Pandemie auf die junge Generation erfassen. Zunächst trat dann in den Vordergrund, wie sich die Altersgruppe von dieser Zeit erholt hat. Inzwischen ist auch die Frage, wie sie auf neue Herausforderungen reagiert, darunter Krieg, wirtschaftliche Unsicherheiten und Klimawandel. Die in der vergangenen Woche vorgestellte Auswertung wurde anlässlich der Veröffentlichung der Preprints vorgestellt. Das heißt, die Daten haben noch kein Peer-Review durchlaufen, wurden also noch nicht von anderen Wissenschaftlern begutachtet.

»Jede Stunde mehr Mediennutzungszeit führt bei Kindern und Jugendlichen zu einer Verschlechterung der psychischen Gesundheit.«

Anna Kaman Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf

Die Copsy-Studie ist deshalb so interessant, weil dafür seit Mai 2020 immer wieder die gleichen Familien befragt wurden. Ausgewertet wurden aktuell die Angaben von 2865 Familien mit Kindern und Jugendlichen im Alter von sieben bis 22 Jahren, die mindestens an einer der Copsy-Wellen zwischen Mai 2022 und Oktober 2024 teilgenommen hatten.

Zum Vergleich lässt sich eine Vorgängerstudie unter dem Namen Bella heranziehen, die ein Modul der großen Kiggs-Studie darstellt. Letztere läuft unter Federführung des Robert-Koch-Instituts und hat allgemein die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen zum Thema. Das Bella-Modul zum seelischen Wohlbefinden startete schon 2003; in insgesamt vier Wellen wurden die Daten erhoben. Zum Vergleich mit den Pandemiedaten konnten hier die Ergebnisse der 4. Welle einbezogen werden, erfasst zwischen 2014 und 2017.

Hochgerechnet aus den Copsy-Ergebnissen lässt sich sagen, dass es in Deutschland rund 400 000 Kindern und Jugendlichen – das sind fünf Prozent der Altersgruppe – im Herbst 2024 immer noch schlechter ging als vor der Pandemie. Besonders stark traf das diejenigen, die ohnehin schon Zukunftsängste haben. In diesem Jahr nahmen Ängste vor Kriegen, Terrorismus, Wirtschaftskrisen und Klimawandel deutlich zu.

In der Pandemie war die psychische Gesundheit im Winter 2020/21 am stärksten beeinträchtigt: Etwa ein Drittel der Befragten gab psychische Auffälligkeiten und Ängste an, ein Viertel depressive Symptome. Der Trend der Verbesserung setzte sich nach 2022 und 2023 in diesem Jahr nicht mehr fort. Zuletzt wurde von 22 Prozent der Kinder und Jugendlichen über psychische Auffälligkeiten, von 23 Prozent über Angstsymptome berichtet. Nur bei den depressiven Symptomen zeigte sich gegenüber dem Niveau vor der Pandemie eine Verbesserung. Bei dem letztgenannten Thema waren Mädchen deutlich stärker beeinträchtigt.

Im Zuge der Vorstellung dieser Befunde diskutierten beteiligte Wissenschaftler sowie weitere Experten in einer Online-Veranstaltung des Science-Media-Centers auch Risiko- und Schutzfaktoren. Ein großes Risiko für psychische Probleme haben demnach junge Menschen von Eltern mit niedrigeren Bildungsabschlüssen und eigenen psychischen Krankheiten. Allein vier Millionen Kinderleben in Deutschland in Familien mit einem psychisch kranken Elternteil. Auch Migrationshintergrund und beengter Wohnraum gehören zu diesen Risikofaktoren.

Gesundheitliche und auch psychische Widerstandsfähigkeit zeigen Kinder bei guten persönlichen, familiären und sozialen Ressourcen. Dazu kann gehören, dass in den Familien viel Zeit gemeinsam verbracht wird, aber auch, dass das Umfeld darüber hinaus als unterstützend wahrgenommen wird.

Im Hinblick auf die Wahrnehmung von Krisen spielten die sozialen Medien eine immer stärkere Rolle, so Studienautorin Kaman. »Nahezu 40 Prozent der Kinder und Jugendlichen nutzen digitale Medien mindestens vier Stunden täglich«, erklärt sie. Schädliche Auswirkungen im Zusammenhang damit erfahren Mädchen und Jungen auf zwei Wegen: Zum einen durch teils verstörende Inhalte, zum anderen durch Mobbing und Ausgrenzung auf diesen Kanälen. Zum Zusammenhang dieser Phänomene mit psychischer Gesundheit erläuterte Studienautorin Anna Kaman, ebenfalls vom Hamburger Universitätsklinikum: »Jede Stunde mehr Mediennutzungszeit führt bei Kindern und Jugendlichen zu einer Verschlechterung der psychischen Gesundheit.«

Kaman gehört zu den Wissenschaftlern, die ein Nutzungsverbot für diejenigen unter 16 Jahren, wie jetzt in Australien vorgesehen, weniger überzeugt. Eher ginge es darum, die Medienkompetenz der Kinder zu verbessern und in dieser Frage auch bei den Eltern anzusetzen. Letztere würde Studienleiterin Ravens-Sieberer noch einmal allgemeiner unterstützen wollen. Sie schlägt niedrigschwellige Angebote für Eltern vor, in die investiert werden müsse, um deren Erziehungskompetenzen zu stärken. Flächendeckend müssten ebenfalls unterstützende Ressourcen an Schulen ausgebaut werden, »weil wir ja dort alle Kinder aller sozialen Schichten über sehr lange Zeit erreichen.«

Bei der Einordnung der Studienergebnisse weist Marcel Romanos von der Universität Würzburg darauf hin, dass Volkskrankheiten wie Depressionen »nicht vom Himmel fallen, sondern früh in Kindheit und Jugend beginnen.« Der Kinder- und Jugendpsychiater mahnt ebenfalls an, mehr für die Prävention zu tun. In vielen Regionen existierten Versorgungsengpässe, unter anderem durch Nachwuchssorgen bei spezialisierten Psychiatern. Es gebe gute Programme zur Unterstützung von gefährdeten Kindern, die jedoch nicht nur hier und da lokal eingeführt werden dürfte. Es sei hingegen Zeit für eine übergeordnete, nationale Strategie.

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