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Oppositionelle Milizen nehmen Damaskus ein

Syrische Flüchtlinge in den Nachbarländern feiern den Sturz Assads, manche bleiben skeptisch

  • Mirco Keilberth, Beirut
  • Lesedauer: 5 Min.
Syrer im östlichen Bekaa-Tal im Libanon feiern den Sturz der Regierung des syrischen Präsidenten al-Assad.
Syrer im östlichen Bekaa-Tal im Libanon feiern den Sturz der Regierung des syrischen Präsidenten al-Assad.

So hat sich wohl niemand den Sturm auf Damaskus vorstellen können: Am Sonntag kamen mehrere mit Sturmgewehren bewaffnete Kämpfer der von Haiat Tahrir Al-Scham (HTS) geführten Allianz aus dem Amtssitz von Premierminister Mohammad Ghazi Al-Dschalali, vor drei Monaten noch höchstpersönlich von Präsident Baschar Al-Assad eingesetzt. Alle erwarteten das Schlimmste, auch die Exekution des Premierministers durch die siegreiche Islamisten-Allianz. Doch zwischen dem Vertreter des alten Regimes und den neuen Machthabern war keinerlei Spannung zu spüren.

Kurz nachdem Assad angeblich mit einer russischen Iljuschin-Maschine aus Damaskus geflohen war, bot HTS-Anführer Abu Mohammad Al-Dscholani, der inzwischen wieder unter seinem bürgerlichen Namen Ahmad Al-Scharaa auftritt, dem Premier in einem Telefongespräch an, die Regierungsgeschäfte bis zur Wahl neuer Autoritäten weiterzuführen.

Geordnete Übernahme der Hauptstadt

Im ganzen Land strömten die Menschen jubelnd auf die Straßen, als klar wurde, dass Baschar Al-Assads Herrschaft vorüber ist. Selbst im von mehrheitlich Alawiten bewohnten Küstenstreifen, eine traditionelle Machtbasis der Assad-Familie, wurde die Flagge des neuen Syrien geschwenkt. Schon als am Freitag die Schlacht um die Stadt Homs begonnen hatte, hatten sich Offiziere der Regierungsarmee auf den Weg nach Tartus am Mittelmeer gemacht, dort, wo die russische Marine eine Basis betreibt. Mit der Selbstauflösung der gefürchteten 4. Division, die mit mehr als 100 000 Soldaten den HTS-Rebellen wohl überlegen gewesen wäre, war das Regime bereits dem Untergang geweiht.

Dass Ahmad Al-Scharaa alias Abu Mohammad Al-Dscholani dennoch nicht auf eine möglichst schnelle, sondern geordnete Übernahme der Hauptstadt setzt, macht die zweite syrische Revolution zu einem ganz besonderen Ereignis. »Ich hatte Angst, dass wie nach dem Sturz von Muammar Al-Gaddafi die Euphorie direkt in Rache und Chaos übergeht«, sagt Mohammad Ahrebi, ein nach Beirut geflohener Syrer. Zusammen mit einer Gruppe Landsleute saß er seit Freitag durchgehend in einem Café, um keine der im Minutentakt eintreffenden Nachrichten zu verpassen. »Die Kontrollpunkte der Regierungstruppen sind verwaist. Wir können zurück nach Hause.«

»Ich hatte Angst, dass wie nach dem Sturz von Muammar Al-Gaddafi die Euphorie direkt in Rache und Chaos übergeht.«

Mohammad Ahrebi Syrischer Flüchtling in Beirut

Im Libanon und den anderen Nachbarländern Syriens werden die Ereignisse der letzten Tage mit Erstaunen aufgenommen. Wie in Syrien fragen sich viele Menschen, ob der im Vergleich zu den Kämpfen der letzten Jahre fast unblutige Machtwechsel nur der Beginn einer neuen Serie von Rache und Vergeltung ist, oder ob HTS-Anführer Al-Scharaa wie zuvor in Aleppo die Spannungen zwischen den Regimeanhängern, den Aufständischen und den ethnischen Minderheiten entschärfen kann.

»Es läuft bisher besser, als ich es mir hätte erträumen können«, sagt ein syrischer Restaurantbesitzer im Beiruter Hamra-Bezirk. »Aber wir wollen abwarten, ob die Leute vom Regime wirklich die Macht übergeben haben.« Das Haus seiner Familie daheim war von einem Offizier der iranischen Revolutionsgarden mithilfe gefälschter Dokumente übernommen worden, berichtet der 45-Jährige. Aus Angst vor dem Regime, selbst nachdem es gestürzt wurde, will er seinen Namen immer noch nicht nennen.

Rückkehrer stehen ohne Wohnungen da

»Viele von uns werden vor ihren mittlerweile verkauften Wohnungen oder Häusern stehen«, warnt ein anderer Gast des Treffens der Exil-Syrer. Denn wer drei Jahre nicht auf seinem Grundstück oder in seinem Haus war, der verlor nach den Regeln des Regimes das Besitzrecht. Hunderttausende Immobilien wechselten so in den vergangenen 13 Jahren die Besitzer.

Die Arbeit der Behörden in Damaskus solle weitergehen, fordert HTS-Chef Al-Scharaa. Sein Wandel vom Islamisten zu einem kompromissbereiten Revolutionär ist der Schlüssel des Erfolgs der Rebellenallianz. In Hama und Homs wurde der 42-Jährige von den jubelnden Menschen wie ein Befreier gefeiert. Obwohl er vom Assad-Regime und den USA als Terrorist gesucht wird, gibt sich der meist nur von wenigen Leibwächtern begleitete Anführer volksnah. Von der Euphorie seiner Mitkämpfer und der Massen auf den Straßen lässt sich Al-Scharaa allerdings bisher nicht anstecken. In einem Interview, das er kürzlich dem US-Nachrichtensender CNN in Aleppo gegeben hat, versprach er Kurden, Regime-Anhängern und Christen die gleichen Rechte wie sunnitischen Syrern.

Ist den Islamisten zu trauen?

Doch nicht alle sind von dem zivilen Antlitz der seit 2011 gegen das Assad-Regime kämpfenden Rebellenbewegung überzeugt. Nachdem die HTS-Einheiten Aleppo erobert hatten, verließen ethnische Minderheiten in langen Autokonvois aus Angst vor den radikalen Elementen in den Reihen der Islamisten die Stadt. Denn Ahmad Al-Scharaa hatte unter seinem Kampfnamen Mohammad Al-Dscholani bis 2016 noch einen ganz anderen Ruf. Bis dahin führte seine Allianz als Al-Qaida nahe Miliz unter dem Namen Al-Nusra in den von ihnen kontrollierten Gebieten strenge Scharia-Regeln ein.

In Idlib, der über Jahre letzten Enklave der Allianz, wird die Machtübernahme der HTS von vielen Menschen mit Hoffnung und Bangen gesehen. Der Ingenieur Mohammad, der seinen Nachnamen nicht veröffentlicht sehen will, war einer von Al-Dscholanis Opfern. Er berichtet am Telefon von den Monaten, die er in Idlib in einem der vielen Gefängnisse saß, die von den Islamisten betrieben wurden. »Damals zwangen sie unter dem Namen Al-Nusra alle Männer dazu, Bärte zu tragen und streng islamische Regeln einzuhalten.« Dennoch hofft er auf den Wandel der Islamisten. »Die Zukunft wird zeigen, ob sie sich an das Versprechen halten, keine Rache zu üben.«

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