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Heike Heubach: Die lautlose Kämpferin
Heike Heubach ist gehörlos und hat ihren Platz gefunden – als Abgeordnete der SPD im Bundestag
Heike Heubach hat Besuch. In einem kleinen Saal im Paul-Löbe-Haus, gleich neben dem Reichstagsgebäude, steht die Frau mit den langen, braunen Haaren und dem offenen Lächeln und schaut auf eine Gruppe von Schülerinnen und Schüler aus ihrem bayrischen Wahlkreis. »Ich freue mich total, dass Ihr da seid«, sagt Heubach. »Schön, Euch hier empfangen zu dürfen.«
Wobei: Sagen tut es eigentlich nicht Heubach, sondern ihre Dolmetscherin. Denn Heubach ist gehörlos, für eine Unterhaltung nutzt sie die Deutsche Gebärdensprache. Ihre Gebärden übersetzt eine Dolmetscherin in gesprochenes Deutsch, eine zweite übersetzt die Fragen der Jugendlichen in die Deutsche Gebärdensprache. Eigentlich, erzählt Heubach später, sei das mit dem Dolmetschen für viele gehörlose Menschen ein großer Luxus. »Und mir ist es wichtig, dass auch da Gleichberechtigung herrscht, dass auch Weiterbildung und lebenslanges Lernen für alle möglich ist und man sich nicht um Kosten kümmern muss«, so die Abgeordnete.
Ein Mädchen will wissen, wie Heubach in die Politik gekommen ist. Eine lange Geschichte. Heubach erzählt von ihrer Jugend. »Ich habe in der Familie immer schon den Wunsch verspürt, mich für Dinge einzusetzen, wenn ich gemerkt habe, irgendwas ist unfair.«
In Kindergarten und Schule lernt Heubach nach der sogenannten oralistischen Methode, bei der gehörlose Kinder über Lippenlesen und das Bilden von Sprechlauten unterrichtet werden sollen. »Es ging vor allem darum, dass wir lernen, uns gut an die Gesellschaft anzupassen«, sagt Heubach heute. Um Inhalte dagegen ging es kaum – denn für Gehörlose ist es sehr anstrengend und schwierig, dem lautsprachlichen Unterricht zu folgen. »Man kann nur 20 Prozent des Gesprochenen von den Lippen ablesen, die restlichen 80 Prozent muss man aus dem Kontext heraus selbst kombinieren«, sagt Heubach. Worte wie »Butter« und »Mutter« etwa haben das gleiche Mundbild, nur der sprachliche Zusammenhang macht den Gehörlosen klar, welches der beiden gemeint sein könnte. »Vor allem für Kinder, denen das Weltwissen noch fehlt, ist das eine riesige Herausforderung«, sagt Heubach.
Sie schafft die Fachoberschule und macht später eine Ausbildung zur Industriekauffrau. Bei der Ausbildung wird sie zum ersten Mal in der Schule von Dolmetscherinnen und Dolmetschern für Gebärdensprache unterstützt. »Das hat mir die Augen geöffnet, weil die Kommunikation auf einmal überhaupt kein Problem mehr war«, erinnert sich Heubach. Heute setzt sie sich dafür ein, dass gehörlose Kinder von Anfang an die Chance bekommen, in Gebärdensprache zu lernen. Für Kinder, sagt Heubach, sollte inklusives Lernen selbstverständlich sein: »Wenn sich alle gegenseitig kennen und füreinander Verständnis haben, funktioniert die Gemeinschaft deutlich besser.«
2019 fragt sie schließlich ein Bekannter, ob sie als SPD-Kandidatin für den Stadtrat in ihrer Heimatkommune Stadtbergen bei Augsburg antreten möchte. Heubach muss nicht lange überlegen. »Die SPD mit ihren Grundwerten Gleichberechtigung, Freiheit und Solidarität – da habe ich sofort gemerkt, dass mich das anspricht und ich bin dann direkt beigetreten«, sagt sie.
»Mir ist wichtig, mit meiner Arbeit den Menschen zu zeigen, dass Gehörlose genauso ein Teil der Gesellschaft sind und teilhaben können wie alle anderen auch.«
Heike Heubach
Zuerst macht sie alleine Straßenwahlkampf. »Ich hatte ein iPad, auf dem meine Vorstellung gebärdet wurde, die wurde mit einem Voice-Over unterlegt und mit Untertiteln, und da habe ich dann erzählt, wer ich bin, was ich mir vorstelle, was meine Ziele sind«, erzählt Heubach. Als sie ein Jahr später auch für den Bundestag kandidiert, hat sie eine Dolmetscherin mit dabei. Sie klingeln sie an vielen Haustüren. »Da gibt es Menschen, die das völlig irritiert, die sich fragen, wie soll denn eine taube Person in die Politik gehen?«, sagt die Abgeordnete. »Dann muss ich natürlich erst einmal Aufklärung leisten.« Denn dass sie anders kommuniziert als andere Menschen, bedeute schließlich nicht, dass sie inhaltlich nicht mitreden könne. In den Stadtrat wird Heubach zwar nicht gewählt. Und auch ihre Kandidatur für den Bundestag scheitert denkbar knapp.
Doch weil ein anderer SPD-Abgeordneter sein Mandat niederlegt, rückt Heubach im März dieses Jahres doch noch nach. Eine große Herausforderung – für sie selbst, aber auch für die Bundestagsverwaltung. »Wir haben vorher darüber gesprochen, was alles verändert werden muss, damit ich hier gleichberechtigt als Abgeordnete teilnehmen kann«, sagt Heubach. »Zum Beispiel, dass es Brandmelder gibt, die nicht nur ein Tonsignal, sondern auch ein Lichtsignal haben.«
Und dann ist da natürlich noch die Sache mit der Gebärdensprache. »In den Ausschüssen muss zum Beispiel mitgedacht werden, wo die Dolmetschenden sitzen, damit ich sie auch gut sehen kann«, sagt Heubach. »Und dann ist es in den Ausschüssen so, dass in dem Moment, in dem man das Mikrofon anschaltet, die Kamera sich auf die Person, die dann spricht, richtet. Aber ich spreche ja nicht. Und das heißt, dann ist die Kamera auf die Dolmetschenden gerichtet, was ja aber im Bild dann nicht funktioniert.«
Doch auch das Problem wurde gelöst. Als sie im März nach Berlin zieht, braucht sie vor allem eins: Zeit, um in Ruhe anzukommen und sich einzuarbeiten in ihre Arbeit als Parlamentarierin und im Bauausschuss. Doch daran ist überhaupt nicht zu denken. Das Medieninteresse in den ersten Wochen ist riesig. Heubach nutzt es für ihre Zwecke. »Mir ist wichtig, mit meiner Arbeit den Menschen zu zeigen, dass Gehörlose genauso ein Teil der Gesellschaft sind und teilhaben können wie alle anderen auch«, sagt sie.
Ein Schüler meldet sich, hat noch eine Frage. »Was war Ihr schönster Moment in der Politik?«, will er wissen. Heubach muss nicht lange überlegen. »Tatsächlich die erste Rede«, sagt sie. Es ist der 10. Oktober, Heubach hat den Moment gemeinsam mit ihren Dolmetscherinnen lange geübt und minutiös einstudiert. Das Manuskript der Rede hat sie von der deutschen Schriftsprache in die Deutsche Gebärdensprache übersetzt. »Das ist ziemlich kompliziert, weil beide Sprachen eine sehr unterschiedliche Grammatik haben«, sagt Heubach. »Ich musste mir also überlegen, wie ich das Redemanuskript so umwandle, dass der Inhalt sowohl mit der lautsprachlichen Grammatik als auch in Deutscher Gebärdensprache gut verständlich wird.«
Gemeinsam mit einer Redetrainerin und den Dolmetscherinnen übt sie, an welchen Stellen Pausen gesetzt werden müssen oder die Betonung wichtig ist. Immer wieder gehen sie das Manuskript durch.
Dann endlich steht sie am Rednerpult. Vor ihr sitzen ihre zwei Dolmetscherinnen, dahinter die Abgeordneten im Plenarsaal. Heubach trinkt einen Schluck Wasser,schaut in die Runde, lächelt. »Da habe ich gedacht: ›Wow, ich darf jetzt hier in Deutscher Gebärdensprache reden – das ist jetzt ein besonderer Moment!‹ Das geht mir bis heute so.« Dann beginnt sie. Heubach spricht über Bauen und Klimaschutz, ihr Herzensthema – es ist die allererste Rede in Deutscher Gebärdensprache im Bundestag. Am Ende der Rede brandet Applaus auf: Zuerst als Gebärde – die Abgeordneten heben ihre Arme in die Höhe und drehen die Hände hin und her, dann wird geklatscht.
Deshalb will Heubach den Jugendlichen noch etwas mit auf den Weg geben: »Glaubt immer an Euch selbst. Habt ihr Wünsche, Ziele? Es gibt immer einen Weg. Probiert es immer weiter und verfolgt Eure Ziele. Dann öffnen sich Türen«, sagt sie. »Aber vertraut auf Euch selbst.« Das klingt nach einer großen Portion Pathos – aber aus Heubachs Mund eben auch ziemlich authentisch. Die Abgeordnete muss jetzt weiter. Bald stehen Neuwahlen an, und Heubachs politische Arbeit in Berlin soll weitergehen. Aussichtslos ist das nicht, am Wochenende hat die bayerische SPD ihre Landesliste aufgestellt, Heubach ist auf Platz 14. Im aktuellen Bundestag stellen die bayerischen Sozialdemokraten 23 Abgeordnete. Bald wird sie also wieder Wahlkampf machen, zusammen mit einer Dolmetscherin steht sie dann auf Plätzen und klingelt an Haustüren in ihrem Wahlkreis Augsburg-Land. Darin hat sie inzwischen schon Erfahrung.
Noch schnell ein Erinnerungsbild mit der Schulklasse auf der großen Treppe neben dem Saal. Und schon ist Heubach wieder verschwunden, auf dem Weg zurück in den Bundestag.
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