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Pinkeln ist in Berlin eine Klassenfrage
Kostenpflichtige öffentliche Toiletten sind würdelos, findet Julian Daum
»Ich habs gesehen, Woyzeck! Er hat auf die Straße gepisst, an die Wand gepisst, wie ein Hund!« So macht der Doctor in Georg Büchners Drama »Woyzeck« die gleichnamige Hauptfigur runter, die er für »drei Groschen« am Tag für seine medizinischen Studien missbraucht. Und Woyzeck kann nur verschämt antworten: »Aber Herr Doctor, wenn einem die Natur kommt!«
Ja: Was, wenn einem die Natur kommt, aber einer nur drei Groschen verdient? Einer als Obdachloser nur über wenig Bargeld verfügt, öffentliche Toiletten aber kostenpflichtig sind und nur Kartenzahlung möglich ist? Oder einer Probleme mit Inkontinenz hat, aber trotzdem am gesellschaftlichen Leben teilhaben möchte, und zwar ohne, dass die Natur täglich ein kleines Loch in den Geldbeutel reißt? Ja, dann pisst man auf die Straße.
Menschen wollen nicht auf die Straße pissen müssen. Sie wollen in Würde ihre hygienischen Grundbedürfnisse befriedigen. Das gilt für wohlhabende Doctoren wie für arme Woyzecks. Im Sommer sprach mich eine wahrscheinlich wohnungslose Person auf einer Kreuzung an, auf der sich eine öffentliche »Berliner Toilette« befand. Der Mann näherte sich schüchtern. Ob ich mit meiner Karte 50 Cent für ihn zahlen könnte, um die Toilette zu nutzen. Ich verstand nicht. Er erklärte, dass das WC keine Münzen nimmt. Ungläubig begleitete ich ihn zu dem Häuschen und öffnete die Tür mit meiner Karte. Das Bitten müssen, der gemeinsame Weg zum WC waren dem Mann spürbar unangenehm. Grundbedürfnisse ohne Scham zu befriedigen, ist Voraussetzung für ein würdevolles Leben. Kostenpflichtige Toiletten sind es nicht.
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