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Brombeer-Koalition: Ganz leise
In Thüringen hat die erste Brombeer-Koalition Deutschlands die Regierung übernommen
Den Schluck Wasser, den Mario Voigt noch schnell nimmt, ehe er zu seiner ersten Rede als Thüringer Ministerpräsident ans Pult im Plenarsaal des Thüringer Landtags geht, den muss er abzweigen – vom Tisch des Landtagspräsidenten, der zu Voigts Glück ein Parteifreund von ihm ist. Auf dem Platz des Ministerpräsidenten im Plenarsaal steht nämlich kein Wasser bereit, als Voigt am Donnerstagvormittag nach seiner Wahl dort Platz nehmen will. Also geht Voigt zu Thadäus König, nimmt dessen Wasserflasche mit und gießt sich einen Rest Wasser in ein Glas. Dann geht es für ihn los.
Dass der 47-Jährige nun hier steht, als neu gewählter Regierungschef des Freistaats, war noch bis zum Mittwochabend alles andere als sicher – so wie es in den vergangenen Wochen mindestens genauso unwahrscheinlich wie wahrscheinlich war. Mehrfach standen die Gespräche, die Voigt auf den letzten Metern seines langen Weges in dieses Amt geführt hat, vor dem Scheitern.
Das gilt ebenso für die Gespräche zwischen CDU, BSW und SPD, die in Thüringen die erste Brombeer-Koalition Deutschlands bilden, wie auch für die Gespräche dieses Brombeer-Bündnisses mit der Linken. Erst dass diese Gespräche am Mittwochabend erfolgreich waren und dieses Ergebnis schließlich am Donnerstagmorgen – nicht einmal eine Stunde vor dem ersten Wahlgang der Ministerpräsidentenwahl – von der Linke-Fraktion gebilligt worden waren, hat es möglich gemacht, dass Voigt tatsächlich in der ersten Runde gewählt wurde.
Mehrfach standen die Gespräche, die Voigt auf den letzten Metern seines langen Weges in dieses Amt geführt hat, vor dem Scheitern.
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Bei der geheimen Abstimmung votierten 51 Thüringer Landtagsabgeordnete für Voigt, 33 stimmten gegen ihn, vier enthielten sich der Stimme. Für eine erfolgreiche Wahl hatte Voigt mindestens 45 Stimmen gebraucht. Weil sein Brombeer-Bündnis aber nur über 44 Sitze im Landtag verfügt, war er auf mindestens eine Stimme oder besser noch mehrere Stimmen außerhalb dieses Brombeer-Bundes angewiesen.
Diese zusätzlichen Stimmen kamen dann von der Linken. Die Linke biete damit »einen Vertrauensvorschuss, aber keinen Blanko-Scheck«, hatte der Fraktionsvorsitzende der Partei Christian Schaft am Donnerstagmorgen gesagt. Wie viele Stimmen Die Linke liefern werde, das obliege der Gewissensentscheidung der einzelnen Abgeordneten, weshalb es nicht möglich sei, genau zu sagen, wie viele Linke für den CDU-Mann Voigt stimmen würden.
Dennoch ist ab diesem Zeitpunkt klar: Anders als bei der Wahl des FDP-Mannes Thomas Kemmerich zum Thüringer Ministerpräsidenten am 5. Februar 2020 mit den Stimmen von FDP, CDU und AfD wird die rechtsextreme Fraktion bei dieser Ministerpräsidentenwahl keine destruktive Rolle spielen können. Ihr Stimmverhalten ist für den Ausgang dieser Wahl ohne Bedeutung, was die AfD später am Tag als »Verrat am Wählerwillen« geißeln wird. Im Gegenzug für ihre Stimmen bekommt die Linke-Fraktion eine schriftliche Duldungsvereinbarung mit der Brombeere, die allerdings »Pflichtenheft« heißt.
Nach der Wahl ist vor diesem Hintergrund auf den Fluren des Landtags eine Debatte darüber entbrannt, wer wohl wie abgestimmt haben dürfte. Fakt ist: Voigt hat sieben Stimmen mehr erhalten, als die Brombeere Sitze im Landtag hat. Manche Linken sagen – und hier wird es spekulativ –, das sei ein Ausweis dafür, dass mehrere Brombeer-Abgeordnete nicht für Voigt gestimmt hätten, denn Die Linke habe ganz bestimmt mehr als sieben Stimmen geliefert. Insgesamt hat deren Fraktion zwölf Abgeordnete im Parlament. Beweisen lässt sich diese Annahme nicht, und sie wird sich auch später nicht beweisen lassen. Thüringens nun Ex-Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) jedenfalls sagt, er habe auf dem Stimmzettel mit Voigts Namen sein Kreuz »selbstverständlich« bei »Ja« gemacht.
Noch ehe solche Debatten so richtig um sich greifen, nimmt Voigt unmittelbar nach seiner Wahl erst einmal viele Gratulationen entgegen. Alle Abgeordneten seiner Fraktion beglückwünschen ihn, auch viele Abgeordnete von BSW und SPD. Von der Linken sind es nur Schaft und die parlamentarische Geschäftsführerin der Fraktion, Katja Mitteldorf, die sich in die Schlange der Gratulanten einreihen. Und außer dem AfD-Fraktionsvorsitzenden Björn Höcke gratuliert Voigt auch kein rechtsextremer Abgeordneter. Voigt ergreift Höckes Hand und schüttelt sie einen kurzen Augenblick. Ramelow hatte Höcke diesen Handschlag vor fast fünf Jahren verweigert, als er das zweite Mal zum Thüringer Regierungschef gewählt worden war.
Neben vielen Blumen nimmt Voigt bei dieser Gratulantenrunde auch eine Topfpflanze entgegen, vom BSW-Ko-Landesvorsitzenden Steffen Schütz. Es ist eine Brombeere. Die BSW-Ko-Landesvorsitzende Katja Wolf sagt, sie wolle jetzt regelmäßig kontrollieren, ob diese Pflanze von Voigt auch genügend Wasser und Dünger bekomme. In fünf Jahren jedenfalls solle der Strauch genügend Brombeeren abwerfen, um damit gemeinsam eine Brombeer-Torte backen zu können.
Nachdem er den Schluck Wasser, den er bei König abgezweigt hatte, getrunken hat, sagt Voigt in seiner ersten Rede als neuer Ministerpräsident wieder das, was er seit Monaten in der ein oder anderen Form immer wieder sagt. »Das ist jetzt die schönste Verantwortung, aber auch die herausforderndste Aufgabe, jetzt Ministerpräsident von Thüringen zu sein«, ist einer der ersten Sätze, die er formt. Er spricht darüber, dass die Menschen auf dem Land und in den Städten die gleichen Chancen im Leben haben müssten, dass er die Bildung besser machen wolle. Und er dankt Ramelow. Der habe das Land »mit einer gewinnenden Herzlichkeit geführt«. Da applaudieren alle – außer die AfD-Abgeordneten.
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