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Dieter Boris: Vorreiter der globalen Soziologie
Ein persönlicher Nachruf auf den Soziologen und Lateinamerika-Experten Dieter Boris
Mit dem Tod von Dieter Boris ist eine der wichtigsten Stimmen zur Analyse Lateinamerikas im deutschsprachigen Raum verstummt. Dieter Boris hatte sich bereits früh einer globalen Perspektive in der Soziologie verschrieben, lange bevor die Globalisierungsforschung zur Wissenschaftsmode wurde. Seine nüchternen Studien zur Politik, Ökonomie und Sozialstruktur des lateinamerikanischen Subkontinents prägten mehrere Generationen von Marburger Studierenden und machten ihn zu einem gefragten Kommentator tagespolitischer Geschehnisse.
Der jüngste 68er-Professor
Dieter Boris wurde am 27. Mai 1943 in Bielitz geboren und wuchs in Wiesbaden auf. Nach einem kurzen Studienaufenthalt an der Goethe-Universität Frankfurt am Main wechselte er nach Marburg, um dort beim »Dreigestirn« Wolfgang Abendroth, Heinz Maus und Werner Hofmann Politikwissenschaft und Soziologie zu studieren. Als Student und Doktorand engagierte er sich beim Sozialistischen Deutschen Studentenbund SDS. Der Vietnamkrieg und die sozialistische Allende-Regierung (1970–1973) in Chile prägten seine Interessen. Nach der Promotion mit einer Arbeit zur politischen Soziologie Karl Mannheims wurde er 1972 zum Professor für Soziologie ernannt.
Dieter Boris war der jüngste der Marburger Professoren, die aus der 68er-Bewegung hervorgingen – der Entwicklungssoziologe war erst 29 Jahre alt. Mit der Restrukturierung des Fachbereichs Gesellschaftswissenschaften wurde Dieter Boris Soziologieprofessor. Er fiel nicht unter den »Jakobiner-Pakt«, bei dem die Marburger Politikwissenschaftler ihre Ausstattung teilten, und arbeitete deshalb ohne größere personelle Unterstützung.
Dies hemmte jedoch nicht seine Produktivität: Er veröffentlichte zwei Dutzend Monografien und Sammelbände, fast alle zu seinen Leib- und Magen-Themen Lateinamerika und Ungleichheiten in der globalen Weltwirtschaft. Darunter fielen die Bücher »Arbeiterbewegung in Lateinamerika« (1990), »Ursprünge der europäischen Welteroberung« (1992), »Soziale Bewegungen in Lateinamerika« (1998), der Band »Bolívars Erben« (2014) zu linkspopulistischen Regierungen auf dem Subkontinent und sein vielleicht wichtigstes Buch »Zur Politischen Ökonomie Lateinamerikas« (2001). Den Marburger Soziologen interessierten neben den progressiven sozialen Bewegungen Lateinamerikas vor allem die politische Ökonomie und Sozialstruktur des Subkontinents. Mexiko und Argentinien waren die beiden Länder, die ihn am meisten umtrieben.
Seine Arbeiten zeichneten sich durch eine spezifische Herangehensweise aus. Dieter Boris untersuchte meist das Beziehungsgeflecht von drei Dimensionen: Sozialstruktur, Ökonomie und Politik. Dabei nahm er bereits einen globalen Blickwinkel ein, bevor die Rede von Globalisierung zum wissenschaftlichen Standardrepertoire wurde. Gesellschaftliche Prozesse im nationalstaatlichen Container verortete er im Gesamtkomplex der kapitalistischen Weltwirtschaft. Für das Studium Lateinamerikas heißt das, dass sich die abhängige wirtschaftliche Position des Subkontinents auch in der Sozialstruktur – etwa einem hohen Anteil informeller Arbeit und Unterbeschäftigung – äußert und politische Handlungsspielräume beeinflusst. Politische Dynamiken ergeben sich dabei jedoch nicht deterministisch aus ökonomischen Prozessen, sondern gesellschaftliche Kräfteverhältnisse strukturieren wiederum die Volkswirtschaft und Sozialstruktur. In jüngeren Publikationen ging der Marburger Soziologe auch verstärkt auf kulturelle Aspekte ein. In einem Supplement der Zeitschrift »Sozialismus« aus dem Jahr 2019 beleuchtete er die politische Kultur Lateinamerikas.
Wissensdurstiger Intellektueller
Ich lernte Dieter Boris im Sommersemester 2000 als Zuhörer seiner Vorlesung zur Sozialstrukturanalyse kennen, später besuchte ich Seminare zur Dependenztheorie und Lateinamerika. Er war an kritischen Studierenden interessiert: Nach einem Referat zu Finanz- und Währungskrisen lud Boris mich und einige andere Kommilitonen zu einem Diskussionskreis zu Finanzmärkten mit ihm, Hans-Jürgen Bieling und Kai Eicker-Wolf ein. Die Grundlagen der Entwicklungssoziologie und politischen Ökonomie lernte ich von ihm. Unser gemeinsames Interesse war damals die politische Linkswende in Lateinamerika: Zusammen mit Anne Tittor gaben Dieter Boris und ich 2005 einen Band zum Verfall neoliberaler Hegemonie in Lateinamerika heraus. Ich selbst promovierte später mit einer weltsystemtheoretisch inspirierten Arbeit zur Außenwirtschaftspolitik der brasilianischen Linksregierung Luiz Inácio »Lula« da Silva. Dieter Boris war der engagierte Zweitbetreuer meiner Dissertation.
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Als Wissenschaftler war er getrieben von seinem Wissensdurst: In der Zeit vor dem Internet informierte er sich über aktuelle Geschehnisse in der Weltpresse durch regelmäßige Gänge zum Bahnhofskiosk. Ein komplexes System mit Ordnern zu Neuerscheinungen in seinem Büro im Soziologie-Institut hielt ihn bei der wissenschaftlichen Literaturrecherche auf dem neuesten Stand. Seine Mitstreiter*innen versorgte er manchmal mit Exponaten aus seiner hauseigenen Bibliothek. Ich selbst erinnere mich lebhaft an Beutel mit vergilbter Literatur, die er teils in den 70er Jahren aus Lateinamerika eingeflogen hatte.
Sein Interesse machte vor wenigen Themen halt. Ob Globalgeschichte oder soziologische Theorie, er hatte die zentralen Arbeiten im Feld zur Kenntnis genommen. Verschiedene seiner Publikationen zeugen von diesem umfangreichen Wissen. Hierzu zählt etwa das spanischsprachige Bändchen »La República Federal de Alemania. Aspectos de su desarrollo social regional y económico« (2000) zur Sozialstruktur und Ökonomie der Bundesrepublik Deutschland, das bei einem Auslandsaufenthalt als Gastprofessor an der UNAM (Universidad Nacional Autónoma de México) in Mexiko entstand. Auch seine jüngere Beschäftigung mit dem Leben und Werk von Felix Weil, dem betuchten Förderer des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, verdeutlicht seine breiten Interessen.
Besonnener Linkssozialist
Politisch verortete Dieter Boris sich als Linkssozialist. Auch bei Gegenwind vertrat er energisch seine Positionen. Als andere Entwicklungssoziologen zur Jahrtausendwende über Modernisierung und systemische Wettbewerbsfähigkeit diskutierten, interessierten den Politökonomen weiterhin Abhängigkeiten in der Weltwirtschaft und soziale Ungleichheiten im globalen Süden. Dabei scheute er auch keine Konflikte mit anderen Wissenschaftler*innen: Seine nüchterne Einschätzung der zapatistischen Bewegung in Mexiko oder der Piqueteros in Argentinien folgte nicht dem Zeitgeist. Wissenschaftliche Moden waren ihm fremd. Dieter Boris vermittelte begeistert Wissen, publizierte zu aktuellen Themen und scharrte kleine Zirkel von Studierenden um sich, mied aber die Nabelschau auf großen Bühnen wie internationalen Konferenzen.
Nach der Emeritierung lebte der Lateinamerika-Experte zurückgezogen mit seiner Familie im Marburger Vorort Cappel. Er äußerte sich immer wieder mit lesenswerten Beiträgen zu aktuellen Geschehnissen, jüngst zum Scheitern der progressiven chilenischen Verfassung und zusammen mit Patrick Eser zur Wahl des Anarchokapitalisten Javier Milei in Argentinien. Dieter Boris starb am 22. November 2024. Seine einzigartige Fähigkeit, tagesaktuelle Geschehnisse mit Nüchternheit zu betrachten und in größere Zusammenhänge einzuordnen, wird heute mehr denn je gebraucht. Seine Stimme wird in manch aufgeregter Debatte fehlen.
Stefan Schmalz ist Heisenberg-Forschungsgruppenleiter an der Staatswissenschaftlichen Fakultät und dem Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt.
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