Berliner Juden erleben antisemitische Dauereskalation

Tausende antisemitische Vorfälle gab es in Berlin seit dem 7. Oktober 2023

Antisemitische Schmiereien in der Braunschweiger Straße in Neukölln
Antisemitische Schmiereien in der Braunschweiger Straße in Neukölln

Für eine Studie befragten Forscher Juden zu ihren Erfahrungen mit Antisemitismus. Ihre Berichte geben einen Einblick in jüdisches Leben in Berlin im Jahr 2024. »Die Religion unserer Kinder ist in der Nachbarschaft bekannt. Manchmal haben wir eine krasse Unsicherheit, dass jemand kommt und ihnen etwas Böses will«, sagte ein junger Vater. »Beim Arzt und auch in anderen Kontexten sage ich nicht mehr, wer ich bin«, erzählte eine Frau. »Ich versuche, im öffentlichen Raum vage zu sein.« Eine weitere: »Der 7. Oktober war wie ein Schnitt für mich, ein Einschnitt in mein Leben. Es ist, als wäre die Zeit stehengeblieben. Als höre der Oktober nie auf.«

Die Angst der Juden ist nicht unbegründet: In mehr als 90 Fällen seien Menschen in die Beratung gekommen, weil sie »extreme Gewalt« erfahren haben, berichtet Chernivsky am Montag vor dem Innenausschuss des Abgeordnetenhauses. Bei 130 Beratungen seien die Betroffenen Opfer »gezielter Sachbeschädigungen« geworden. »Wir sehen eine massiv veränderte Qualität und Quantität des Bedrohungspotenzials«, sagt Chernivsky.

Auch Julia Kopp von der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (Rias) kennt die Lage. Allein vier Angriffe habe es in Schulen gegeben. »Jüdische Kinder wurden geschlagen, bespuckt und angefeindet«, berichtet sie. Die Dunkelziffer könnte noch höher sein. »Endlich schaffen wir die Juden ab«, hätten mehrere Schüler einer Grundschule im Klassenraum nach dem 7. Oktober skandiert, berichtet Chernivsky. Eingang in die Statistik fand der Vorfall nicht. Die Lehrkräfte sahen keinen Antisemitismus, sondern nur Wortmeldungen zum Nahost-Konflikt.

Das sei ein verbreiteter Irrtum, sagt Chernivsky. »Der Nahost-Konflikt ist nicht der Grund, sondern der Anlass für Antisemitismus.« Der nach dem brutalen Hamas-Angriff am 7. Oktober wieder aufgeflammte Krieg in Nahost habe die Situation für Berliner Juden zwar verschärft – doch die antisemitischen Wortbilder, die hinter den Angriffen stehen, existierten schon zuvor. Sollten die Gefechte im Gazastreifen enden, bedeute das keineswegs, dass damit auch die Bedrohung für Juden wegfalle. »Es handelt sich um eine dauerhafte Krise, die nicht enden wird«, so Chernivsky.

Antisemitismus sei aber keine Erscheinung migrantischer Milieus, gibt die Antisemitismusforscherin Monika Schwarz-Friesel von der TU Berlin zu bedenken. Vielmehr finde er sich in allen Gesellschaftsschichten, komme wortwörtlich »aus der Mitte der Gesellschaft«. Auch in intellektuellen Kreisen habe er sich als »Feuilleton-Antisemitismus« etabliert. »Man kann Antisemitismus nicht mit Rassismus bekämpfen«, sagt auch Ofek-Vorständin Chernivsky. Die Realität sei häufig komplexer: So hätten jüdische Schüler auch Schutz durch muslimische Mitschüler erfahren.

»Wenn das Zusammenleben nicht funktioniert, dann muss man das benennen«, sagt Sigmount Königsberg von der Jüdischen Gemeinde Berlin. Juden trauten sich in manchen Stadtvierteln nicht mehr, sich als solche zu erkennen zu geben – das sei ein Fakt. Trotzdem müsse man am Dialog festhalten, um Vorurteile abzubauen. Die Erfahrung, dass das nicht immer einfach ist, hat er bereits selbst gemacht. Königsberg ist Mitglied des Islamforums, in dem muslimische Geistliche mit gesellschaftlichen Vertretern zusammenkommen. Eine Diskussion über Antisemitismus dort sei fruchtlos verlaufen. »Wir hatten einfach keine Gesprächsebene«, erinnert sich Königsberg. »Man spricht über völlig andere Dinge.«

Auch TU-Forscherin Schwarz-Friesel ist zwiegespalten angesichts solcher Dialoge. »Aufklärerische Aktivitäten reichen nicht aus«, sagt sie. »Wir müssen auch auf Repression setzen.« Angesichts der deutschen Geschichte dürfe man den Intoleranten nicht tolerant begegnen. Samuel Salzborn, der Antisemitismusbeauftragte des Landes, fordert, gegen Nachfolgeorganisationen des antisemitischen Netzwerks Samidoun vorzugehen, das im vergangenen Jahr verboten wurde. »Da ist der Bund in der Pflicht.« Er beobachte, dass es inzwischen eine größere Sensibilität für Antisemitismus bei den Sicherheitsbehörden gebe, so Salzborn. Um entschiedener agieren zu können, fordert er, den Kampf gegen Antisemitismus in die Berliner Landesverfassung aufzunehmen und so zum Staatsziel zu machen.

Für Schwarz-Friesel ist die Zeit zum Handeln überreif. »Die Floskel ›Nie wieder‹ hilft nicht mehr. Wir sind längst im ›wieder‹ angekommen.«

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