- Politik
- Regierungsbildung
Wahl in Sachsen: Weder Chaos noch ein Kemmerich
Dresdner Landtag wählt Michael Kretschmer im zweiten Anlauf zum Ministerpräsidenten
Sie haben es probiert. Die sächsische AfD versuchte, bei der Wahl des Ministerpräsidenten im Dresdner Landtag einen Kemmerich-Moment zu erzeugen. So wie ihre Parteifreunde in Thüringen im Februar 2020 ihren eigenen Kandidaten fallen ließen und stattdessen gemeinsam mit der CDU den FDP-Bewerber zum Regierungschef kürten, so stimmten ihre sächsischen Abgeordneten im zweiten Wahlgang nicht für den eigenen Fraktionschef Jörg Urban, sondern für Matthias Berger, den einzigen Abgeordneten der Freien Wähler. Dafür, dass der Coup nicht aufging, sorgte jedoch eine bemerkenswerte Geschlossenheit im demokratischen Lager. CDU-Amtsinhaber Michael Kretschmer erhielt 69 Stimmen und also mindestens 18 aus der Opposition. Damit ist der seit 2017 amtierende Regierungschef zum zweiten Mal wiedergewählt.
Der Abstimmung im Freistaat hatten Beobachter mit einiger Sorge entgegengesehen. Als »riskanten Versuch« bezeichnete die Nachrichtenagentur dpa die Wahl; die Regionalzeitung »Freie Presse« überschrieb ihren Liveticker mit »Kretschmer oder Chaos«. Grund: Erstmals im Freistaat stellte sich ein Kandidat zur Wahl, der keine eigene Mehrheit im Rücken hatte. Der 49-jährige Kretschmer wurde von einer Minderheitskoalition aus CDU und SPD ins Rennen geschickt, die im Landtag nur über 51 der 120 Sitze verfügt. Der Versuch, eine Mehrheitskoalition unter Einschluss des BSW zu bilden, war Anfang November gescheitert.
Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.
Damit erschien es von vornherein unwahrscheinlich, dass Kretschmer im ersten Wahlgang die laut Verfassung erforderliche absolute Mehrheit von 61 Stimmen erhält. Tatsächlich kam er auf 55 Stimmen, also immerhin ebenfalls bereits vier jenseits des eigenen Lagers. Urban vereinte die 40 Stimmen seiner Fraktion auf sich. Der Grimmaer Ex-Oberbürgermeister Berger, der für die Bildung einer Expertenregierung unter seiner Führung warb, kam auf sechs Stimmen.
Für den zweiten und eventuelle weitere Wahlgänge, in denen ein Bewerber für den Sieg nur noch mehr Stimmen erhalten musste als die Gegenkandidaten zusammen, gab es verschiedene unschöne Szenarien. Nicht ausgeschlossen wurde, dass ein Streit zwischen Landtagspräsident Alexander Dierks und den Grünen, in dem es um die Möglichkeit einer Nein-Stimme auf den Wahlscheinen ging, vor dem Verfassungsgericht landen würde. Ein anderes Szenario war, dass die AfD entgegen früheren Ankündigungen doch auf Berger umschwenkt und dieser zum Ministerpräsident gewählt wird, was dem Land eine Regierungskrise beschert hätte.
»Ich bin dankbar für eine verantwortungsvolle Opposition.«
Michael Kretschmer Ministerpräsident
Dass es dazu nicht kam, liege an »vielen verantwortungsvollen Kollegen und Fraktionen« im Parlament, die ein »Chaos« verhindert hätten, sagte Kretschmer nach seiner Wahl. Zu dieser dürften rechnerisch vor allem die sechs Abgeordneten der Linken sowie jene des BSW beigetragen haben, von dessen 15 Mandatsträgern einige im ersten Wahlgang offenbar für Berger gestimmt hatten. Die Grünen, die dem CDU-Mann wegen dessen aggressiver Wahlkampagne gram sind, erklärten, man habe sich enthalten. Der wiedergewählte Regierungschef, der gemeinsam mit anderen Koalitionsvertretern vorab intensiv um Unterstützung geworben hatte, erklärte denn auch, er sei »dankbar für eine verantwortungsvolle Opposition«. Kretschmer äußerte den Wunsch, auch weiterhin »über Parteigrenzen hinweg zu arbeiten«, und bezeichnete die Wahl als »Signal dafür, was in den nächsten Jahren möglich ist«.
Wie lange das ungewöhnliche Bündnis Bestand hat, bleibt abzuwarten. Kretschmer wies bereits unmittelbar nach seiner Wahl darauf hin, dass der Landtag als Nächstes einen Doppelhaushalt für die Jahre 2025/26 beschließen muss. Kürzlich hatte er einen enormen Konsolidierungsbedarf im Milliardenbereich konstatiert. Linke und BSW wiederum lehnen Kürzungen etwa im Sozialbereich strikt ab.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.