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Doch es braucht auch Taten
Zwei aktuelle Comics beschäftigen sich mit der Geschichte der anarchistischen Revolution
Für den französischen Anarchisten Alexandre Marius Jacob waren die Möglichkeiten, auf legale Weise Geld zu verdienen, von Beginn an beschränkt. 1879 in harter Armut am Hafen von Marseille geboren, geht er früh an Bord eines Schiffes. Bei Scheuerarbeiten auf der Reling ist er mit Dreck und Kälte konfrontiert, die entmenschlichende Seite der Schiffshierarchie lernt er auch unter Deck kennen: Drill und sexualisierte Gewalt stehen auf der Tagesordnung, die Solidarität auf dem Walfischfänger, der sich später als Piratenschiff entpuppt, erweist sich als beschränkt.
In einem entterritorialisierten Raum auf hoher See endet Marius’ Lebenstraum noch in Kindertagen – mit dem Bild eines untergehenden Buches auf den ersten Seiten der von Matz und Léonard Chemineau entworfenen Graphic Novel »Marius Jacob. Die Arbeiter der Nacht«: Ein Lebenstraum? »Aber ich habe schnell verstanden: Die Realität war genau das Gegenteil«, heißt es im Kommentartext, wenn eine Spezialausgabe aus Jules Vernes’ Abenteuerreihe »Voyages Extraordinaires« zum Meeresgrund sinkt.
In »Die Arbeiter der Nacht« besteht die Rahmenhandlung aus Szenen vor Gericht, aus den unterschiedlichen Prozessen gegen den französischen Sozialrevolutionär Marius Jacob. Parallel dazu wird seine Lebensgeschichte in Rückblenden erzählt. Als vermeintlicher Dieb betritt er die Bühne der bürgerlichen Rechtsprechung, durchkreuzt von wiederkehrenden Ereignissen aus der Vergangenheit: Da ist der junge Marius, der in der allgemeinen Schulpflicht nicht viel mehr sieht als eine Dressur von menschlichen Affen im Dienst des Kapitals, dort der jugendliche Rebell, der sich im Selbststudium zum Kapitän fortbildet und tagsüber fremde Schiffe havariert.
Er lernt und liest – und wird, zurück an Land, Schriftsetzer und Autor. Mit den Worten »Was er außerhalb der Druckerei macht, geht mich nichts an« verteidigt ihn sein Chef gegenüber allfälligen Anfeindungen; dennoch wird Marius, von seinen Freund*innen auch Roque genannt, immer wieder denunziert und muss seinen Lebensunterhalt bald auf andere Weise bestreiten. »Schreiben ist schön und gut, doch es braucht auch Taten« – so die vorläufige Bilanz.
Manchmal reicht dafür das richtige Mischverhältnis von Kohlenstoff, Schwefel und Salpeter, öfter jedoch nur mehr das Studium von Tresoren. Jacob eröffnet eine Eisenwarenhandlung in der Nähe von Paris und verbreitet seine Ideen über die Zeitschrift »L’Agitateur«. Vor Ort gründet er das Kollektiv »Arbeiter der Nacht« – mit rund 20 Anarchisten, die sich der »individuellen Enteignung« verschrieben haben.
Ab 1899 verübten die Nachtarbeiter rund 150 Einbrüche, sie handelten dabei strikt nach ethischen Grundsätzen: Alle Mitglieder der Gruppe lehnten Eigentumsentwendungen von Armen und Ausgebeuteten ab, Waffengewalt verabscheuten sie aus Prinzip. Als Langfinger mit politischem Fingerspitzengefühl interessierten sie sich vor allem für fremden Besitz, der durch illegitime Aneignung – etwa Wucher, Erbe und Spekulation – zustande gekommen ist. Die »Sturdy Rogues« aus Paris boten dem Werwolfsheißhunger des Kapitals auf ihre Weise Einhalt und erleichterten Juweliere, Bankiers und Priester um das, was ihnen nicht gehört.
Roque selbst begeht seinen ersten Einbruch, um seiner Mutter zurückzugeben, was sie armutsbedingt beim Pfandleiher hatte lassen müssen. Auch in der Objektwahl gelten für ihn andere Gesetze: Die in der Öffentlichkeit scheel angesehene Sexarbeiterin Maria wird zu seiner Gefährtin, denn die »wahren Prostituierten« säßen ohnehin an den Schalthebeln der Macht.
»Die Gesellschaft gewährte mir nur drei Mittel für meine Existenz: Arbeit, Betteln oder Diebstahl«, heißt es in Marius’ Plädoyer kurz vor Verkündigung des Schuldspruchs. Er verurteile die Lohnarbeit keineswegs, doch widerstrebe ihm das »Schwitzen um einen Hungerlohn«: Es sei ihm zuwider, sich »der Prostitution der Arbeit auszuliefern«, bekundet der Angeklagte unmissverständlich gegenüber dem Richter.
Seine Selbstverteidigung bleibt nicht ohne Sympathiebekundungen: Die Schöffen im Saal brechen in Gelächter über einen Priester aus, neben dessen geraubter Geldkasse Marius eine private Nacktbildersammlung entdeckt hat. Dennoch erhielten Roque und seine Freunde harte Strafen. Der Anführer der »Arbeiter der Nacht« wurde zu lebenslanger Zwangsarbeit verurteilt, er verbringt 22 Jahre in einer Häftlingskolonie in Französisch-Guayana.
1927 wird Jacob begnadigt und lässt sich erneut in Frankreich nieder. Weil er beim Verkauf von Stoffwaren keinen Profit einstreichen will, wird er, der Ehrlichste aller Anarchisten, des Schwarzhandels bezichtigt. Sein wenige Stunden vor dem selbst gewählten Ende am 28. August 1954 verfasster Abschiedsbrief liest sich so prosaisch wie ein Einkaufszettel: »Ihr findet zwei Liter Rosé neben der Brotdose. Auf Eure Gesundheit!«
Auch im Comic »Viva l’Anarchie« von Bruno und Corentin Loth wirken die Anarchist*innen einigermaßen realistisch, die Philister hingegen blasiert bis grotesk. Die bekannten Anarchisten Buenaventura Durruti und Nestor Machno sind die Hauptfiguren. Das Rad der Geschichte dreht sich weiter – seitenweise: von den ersten Bauernaufständen infolge der Landreformen im russischen Zarenreich bis hin zum Spanischen Bürgerkrieg.
Buenaventura Durruti, einer der führenden Köpfe des anarchistischen Widerstands in der Spanischen Republik, taucht gleich zu Beginn der Graphic Novel auf. Am französischen Nationalfeiertag des Jahres 1927 betritt er gemeinsam mit Francisco Ascaso, Antonio Jover und dem ukrainischen Anarchisten Nestor Machno die Bühne der Geschichte. Im Hintergrund grüßen Sacco und Vanzetti – von einem Bild im Bild mit der Aufschrift »Libérez-les«. Es folgt eine mit blassblauem Kommentartext markierte Rückblende in ein ukrainisches Dorf des Jahres 1908. Zwei Hirschköpfe an der Wand eines Bauernhauses in der Steppe von Huljajpole teilen per Sprechblase mit, was unter den Aufständischen bereits beschlossene Sache ist: »Das Land wird also aufgeteilt!«
Die Erfahrung mit zaristischer Gewalt – 14 der Aufständischen wurden von einem Militärgericht zum Tod am Strang verurteilt – prägte Nestor Machno. Er konnte flüchten und begründete später die anarchistische Bewegung der Machnowschtschina in der Südukraine.
Im Moskauer Butyrka-Gefängnis bereitete er sich theoretisch auf die politische Praxis vor, die Häftlingsbibliothek sicherte ihm das geistige Überleben. Gewalt war auch für Machno nur ein Zwischenschritt auf dem Weg zur Befreiung, Anarchie hingegen Ordnung ohne Herrschaft und Eigentum. »Gleichheit in allem und überall – gleich mit Billigkeit – ist doch die Anarchie selbst«, schrieb Pjotr A. Kropotkin in seinem Essay über anarchistische Moral von 1889. Unter dem Eindruck dieser Worte verwandelt sich der diachrone Raum der Geschichte in einen anderen Ort: Realiter haben sich die vier Revolutionäre Durruti, Ascaso, Jover und Machno vermutlich nie getroffen, im Comic sind sie dennoch vereint.
Bruno Loth/Corentin Loth: Viva l’Anarchie. A. d. Franz. v. Maria Rossi. Bahoe Books,
80 S., geb., 22 €.
Léonard Chemineau/Matz: Marius Jacob. Die Arbeiter der Nacht. A. d. Franz. v. Anna Baer. Bahoe Books, 128 S., geb., 25 €.
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