- Wirtschaft und Umwelt
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Schuldenfalle: Ein Leben für die Zinsen
Mikrokredite sollen der armen Bevölkerung Teilhabe bieten. Doch viele geraten dadurch in eine Schuldenfalle, wie Beispiele in Mexiko zeigen
Ein abgeschiedenes Dorf im Süden des mexikanischen Bundesstaates Oaxaca. Das ist die Heimat von Antonia*. Die meisten der 3000 Einwohner*innen leben von der Landwirtschaft. Antonia hatte mal einen kleinen Lebensmittelladen – aber vor mehr als einem Jahr musste sie ihn schließen. »Ich konnte die Waren für den Einkauf nicht mehr bezahlen«, erklärt sie. Damit fiel eine wichtige Einkommensquelle für ihre Familie weg.
Ihre Misere begann aber schon früher – mit dem ersten Mikrokredit vor mehr als fünf Jahren. »Meine Tochter erkrankte schwer, und ich musste einen Kredit aufnehmen, damit sie angemessen behandelt werden konnte«, sagt Antonia. Sie ist nicht die Einzige in Mexiko, die aus der Not heraus ein Darlehen aufnehmen musste.
Doch mit einer Behandlung war es nicht getan: Es fielen weitere Kosten für Medikamente an. Sie schloss sich einer Kreditgruppe an, um eine weitere Verschuldung eingehen zu können. Die Vergabe von Krediten an Gruppen nach dem Vorbild der Grameen Bank aus Bangladesch, die der Friedensnobelpreisträger Muhammad Yunus gegründet hat, ist in Mexiko ein weit verbreitetes Modell: 4,4 Millionen Frauen hat das Branchennetzwerk Pro Desarrollo neben 1,2 Millionen Männern Ende 2023 als Kund*innen von Mikrofinanzinstitutionen erfasst. Die Mehrheit der Frauen bezieht Kleinkredite über gemeinsame Haftungsgruppen. Umgerechnet 640 Euro beträgt die durchschnittliche Kreditsumme.
Gerät ein Gruppenmitglied mit seinen wöchentlichen oder monatlichen Ratenzahlungen in Verzug, bekommen auch die anderen Gruppenmitglieder Ärger mit Geldeintreiber*innen, denn sie müssen gemeinsam die Zahlung der Raten sicherstellen. Die Soziologin Sophia Cramer, die seit mehr als zehn Jahren zum Thema Mikrokredite und Verschuldung forscht, war Mitte des Jahres in drei Bundesstaaten Mexikos, um Fachleute aus der Branche, Kund*innen und Mitarbeiter*innen von Mikrofinanzinstitutionen zu befragen. Viele berichteten ihr von einem »hohen Druck«, der unter anderem durch die potenzielle Zahlungsunfähigkeit anderer Mitglieder entsteht. Ganz zu schweigen vom Stress für die Kund*innen, deren Einkommen kaum für die Ratenzahlungen reicht, wie bei Antonia, die sich deswegen zwei weiteren Kreditgruppen anschließen musste.
Sie war unter anderem in einer Kreditgruppe des Finanzinstituts Sofipa und litt unter dem Druck der Mehrfachverschuldung sowie den hohen Zinsen: Der effektive Jahreszins von Sofipa liegt bei durchschnittlich 132,7 Prozent. Das ist kein Einzelfall. Mexiko hat die weltweit höchsten effektiven Jahreszinsen für Mikrokredite.
2007 löste der spektakulär profitable Börsengang von Compartamos als größte Mikrofinanzbank Lateinamerikas eine heftige Debatte aus. Der Verkauf von 30 Prozent der Anteile brachte 458 Millionen US-Dollar ein, wovon mehr als die Hälfte an Entwicklungsorganisationen wie die Nichtregierungsorganisation Acción ging. Die hohen Einnahmen beim Börsenstart beruhen auf einem hochprofitablen Geschäftsmodell, was die Glaubwürdigkeit des Ziels der Armutsbekämpfung infrage stellt. Auch Muhammad Yunus, der »Vater« der Mikrofinanz, äußerte damals Kritik. Viel geändert hat das nicht. Das Modell machte Schule: »Bis heute haben viele mexikanische Mikrofinanzinstitute sehr hohe effektive Jahreszinsen, für Gruppenkredite meistens über 100 Prozent«, so Cramer. Der effektive Jahreszins beinhaltet neben dem Nominalzins noch zusätzliche Gebühren. Ob diese Zinslast für die Kund*innen noch tragbar sei, werde »kaum mehr diskutiert«, sagt sie.
Mikrofinanzinstitute rechtfertigen die hohen Zinsen mit der Aussage, dass viele Kleinunternehmen im Globalen Süden mit geringem Kapitaleinsatz hohe Erträge erwirtschaften würden. Bruno Sovilla, Ökonom an der Universidad Autónoma de Chiapas, widerspricht. Das sei »weltfremd«. Wegen der hohen Konkurrenz seien die Gewinnspannen bei Kleinstunternehmen in Mexiko »sehr niedrig«. Die hohen Zinsen führen vielmehr zu einem Vermögensverlust.
Für Antonia spitzte sich die Lage mit der Corona-Pandemie zu. »Meine Geschäftseinnahmen gingen zurück, sie reichten kaum für die Raten.« Sie hat sogar ihren Kühlschrank und ihre Waschmaschine ins Pfandhaus geschleppt – jeweils für nicht viel mehr als den Wert einer wöchentlichen Rate, die im Falle des Sofipa-Kredits umgerechnet etwa 32 Euro betrug. Die Not der Mittdreißigerin und ihrer Familie mit den beiden Kindern wurde mitfinanziert von »ethischen Investoren« wie der Kreditgenossenschaft Oikocredit, die an ihre Anleger*innen vor allem aus Deutschland, Österreich, Schweiz und den Niederlanden eine kleine jährliche Dividende ausschüttet.
Zuletzt hat Sofipa 2024 von Oikocredit ein Darlehen in Höhe von 2,1 Millionen Euro erhalten. In der Selbstdarstellung behauptet das Institut eine »soziale Wirksamkeit« ihrer Kredite. Die hohen Zinssätze von 100 Prozent und mehr sind allerdings nirgends erwähnt. »Was ist ein fairer Zinssatz?«, fragt ein Blogeintrag über die Kalkulation von Zinssätzen von Oikocredit-Geschäftspartner*innen. Dort heißt es nur allgemein: »Ein Zinssatz in Landeswährung kann leicht 26 Prozent erreichen«. Auch andere sogenannte ethische Investoren sprechen von Zinsen in dieser Größenordnung.
Dem widerspricht Martin Zuvire, Gründungsmitglied der »Asociación Méxicana de Uniones de Credito del Sector Social« (Amuccs): »Die meisten Mikrofinanzorganisationen fördern mit enormen Boni an Kreditsachbearbeiter*innen für vergebene Kredite und Neukund*innen ein aggressives Kreditportfoliowachstum.« Ein ehemaliger Mitarbeiter des Mikrofinanzinstitus Conserva kann das bestätigen. Zusätzlich zum Grundgehalt von knapp 400 Dollar hätte er mehr als das Doppelte durch Boni verdienen können, erzählt er, »wenn ich entsprechend Kredite vergeben hätte«. Das Institut verlangt durchschnittlich 201,7 Prozent effektiven Jahreszins für einen Gruppenkredit von umgerechnet etwa 460 Euro. Aus Gewissensgründen verließ der Mitarbeiter das Institut.
Das massive Wachstum in der Branche hat fatale Konsequenzen. »Die Rückzahlungsfähigkeit der Kreditnehmer*innen wird bei der Vergabe kaum berücksichtigt«, meint Marktbeobachter Zuvire. Stattdessen werde darauf gesetzt, dass der soziale Druck in Kreditgruppen die pünktliche Zahlung sicherstellt. »Das funktioniert in vielen Fällen, allerdings um den Preis des beständigen Drucks, Geld für die Rate aufzutreiben«, erklärt Cramer. Viele der von der Soziologin interviewten Frauen aus den Bundesstaaten Veracruz, Chiapas und Oaxaca hätten von Mehrarbeit, Einsparungen bei den Lebensmittelausgaben, Konflikten mit Nachbar*innen und weiteren Kreditaufnahmen erzählt. Sogar bei den berüchtigten »Columbianos« würden sie Geld leihen, wenn es keine andere Option mehr gibt; das sind informelle Geldverleiher*innen mit brutalen Methoden. Dabei sollten diese Kapitalquellen, so das Versprechen der Branche, durch Mikrokredite eigentlich verdrängt werden.
Sophia Cramer beobachtete in einem Dorf in Oaxaca die Folgen von Über- und Mehrfachverschuldung durch Mikrofinanzinstitute und den Rückgriff auf informelle Verleiher*innen, die das Elend noch vergrößern. So auch bei Ingrid, die Lebensmittel verkauft. Vor zwei Jahren brauchte sie ein Darlehen in Höhe von 1000 Euro und zahlt seitdem monatlich 100 Euro Zinsen. Sie wird kaum eine Möglichkeit haben, den Kredit zu tilgen, wenn es ihr nicht gelingt, ihr soziales Umfeld einzubinden. Mit ihrem Tagesverdienst von umgerechnet fünf Euro versucht sie, Zinsen und den Lebensunterhalt ihrer Familie zu decken, was aber kaum möglich ist. Als sie Mitte des Jahres die Zinsen nicht mehr zahlen konnte, hätten sie der Geldverleiher sowie dessen Bruder besucht und sie geschlagen, berichtete sie der Soziologin.
»Solche und ähnliche Geschichten hört man oft in den südlichen Bundesstaaten Mexikos«, fährt Cramer fort. Eine aktuelle systematische Datenerhebung zum Anteil der Mikrokreditnehmer an allen Überschuldeten gibt es nicht. Doch schon 2014 wurde in einer Studie im Auftrag der »Microfinance CEO Working Group« das drängende Problem der Über- und Mehrfachverschuldung in Mexiko deutlich. »Spätestens ab diesem Zeitpunkt hätte gehandelt werden müssen, um Menschen aus einkommensarmen Schichten vor diesem wachstumsgetriebenen Geschäftsmodell zu schützen«, resümiert Cramer.
Die großen Anbieter wie die Compartamos Bank schaffen die Wettbewerbsbedingungen, in denen sich alle Anleger*innen – auch die sozial Verantwortlichen – zurechtfinden müssen, meint der Experte Zuvire. Zum Beispiel das Bankhaus »Red Oaxaca – SMB Contigo«, das Spareinlagen annimmt und Kredite vor allem in ländlichen Gemeinden vergibt. »Anders als viele Anbieter machen wir eine gründliche Analyse des verfügbaren Einkommens«, so Filialleiter Edgardo Cruz, »nach dieser können wir aber nur an eine von zehn Personen einen Kredit vergeben, die anderen sind bereits zu hoch verschuldet.« Die Überprüfung dieser Haushaltseinkommen erzeugt jedoch hohe Betriebskosten, die durch entsprechend hohe Zinsen von bis zu 60 Prozent gedeckt werden müssen. »Selbst mit diesen – im Vergleich zu anderen mexikanischen Anbietern – niedrigen Zinsen ist zweifelhaft, ob soziale Ziele erreicht werden können«, meint Cramer.
Auch bei der Personalsuche gebe es Probleme, ergänzt Zuvire: Viele erfahrene Leute seien halt in Mexiko sozialisiert worden und deshalb für eine verantwortliche Kreditvergabe nicht mehr glaubwürdig. Für sie sei es das Wichtigste, dass »die Boni stimmen«. Nicht zuletzt deshalb haben es alternative Ansätze schwer in Mexiko: Red Oaxaca bietet erst gar keine Boni für die Mitarbeiter an. »Damit werden keine falschen Anreize gesetzt«, erklärt Zuvire. Die Folge sei aber, dass sich Sachbearbeiter*innen von Krediten illegale Vermittlungsgebühren zahlen lassen.
Der aggressive Wettbewerb macht es sehr schwer, verantwortliche Alternativen aufzubauen. »Profitable Investitionen und ethische Grundsätze«, resümiert die Soziologin Cramer, »sind in der mexikanischen Mikrofinanz kaum miteinander zu vereinbaren«.
* Name geändert
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