Aktiv passiv bleiben

Nimm dir, was du lutschst: Emanzipationspolitische Probleme mit einer Bonbonmarke

»Gib dem Naschen einen Sinn«, forderte die Werbung – bloß welchen?
»Gib dem Naschen einen Sinn«, forderte die Werbung – bloß welchen?

Anfang der 60er Jahre kam in der Bundesrepublik ein Bonbon auf den Markt, das versprach das Gesunde im Süßen. Damit schien die Quadratur des Kreises geschafft, zumindest in der Süßwarenindustrie. Denn die Firma Storck hatte ein Produkt ersonnen, das im Zucker das Gute verhieß: die Erlangung wertvoller Vitamine. Ein besseres Leben durch bewussteren Konsum, eine Vorwegnahme des grünen Bürgertums der Gegenwart.

Im Bonbon war die Botschaft: Gesundheit und Süßigkeit sind kein Widerspruch, sondern vereint verfügbar, was der Produktname anzeigt – als Aufforderung, zuzugreifen: »Nimm 2«. Fruchtbonbons mit Vitaminen. »So naschen unsere Kinder Bonbons, die sie mögen, und Vitamine, die sie brauchen«, warb Storck und forderte treuherzig: »Gib dem Naschen einen Sinn.«

Wie zur farblichen und geschmacklichen Verdeutlichung dieser marktstrategisch ziemlich genial formulierten Dialektik, waren in der klassischen »Nimm 2«-Packung Bonbons mit zwei Geschmacksrichtungen verfügbar: Zitrone und Orange. Am besten, man nimmt beide. Zumal beim sinnreichen »Naschen« mehr als nur zwei Vitamine versprochen wurden: »Zehn lebenswichtige Vitamine und Traubenzucker in fruchtige Bonbons verpackt« wurden von Storck für »unser süßes Stückchen Kindheit« versprochen. In der Fernsehwerbung vorgeführt von stets paarweise auftretenden Kindern, die mal in einem Bach einen Staudamm errichten, mal durch den frischen Schnee stapfen oder aber in einem Mini-Segelboot ablegen.

Konnte man sich zu den Vitaminen durchlutschen? Wenn man sich ein »Nimm 2«-Bonbon in den Mund schob, konnte man meinen, die Vitamine wären in der Creme enthalten, die auf einen wartete, wenn man die harte Bonbonhülle weich- und weggelutscht hatte. Ein Bonbon, das sich verflüssigt, das war zumindest eine Andeutung von Formwandel in einer ansonsten gesellschaftspolitisch ziemlich unbeweglichen Welt. Gerade für Kinder, die in der alten Bundesrepublik, die auch als »BRD Noir« bezeichnet wird, eher mit Schildern wie »Ballspielen verboten« oder »Betreten der Grünfläche untersagt« aufwachsen mussten, als dass sie in irgendwelche kleine Segelboote einsteigen durften, wie die »Nimm 2«-Werbung suggerierte.

Taten sie es doch einmal, wurde gleich ein Jugendproblemfilm daraus, gedreht von Hark Bohm, der dann – »süßes Stückchen Kindheit«, wie hast du dich verändert! – »Nordsee ist Mordsee« (1976) heißen musste. Darin singt Udo Lindenberg eines seiner anrührendsten Lieder: »Ich träume oft davon ein Segelboot zu klau’n / Und einfach abzuhau’n / Ich weiß noch nicht wohin (…) Es muss doch irgendwo ’ne Gegend geben / Für so ’n richtig verschärftes Leben / Und da will ich jetzt hin.« Mit »Nimm 2« wird man vermutlich nicht dahinkommen. Denn diese Bonbons verteidigen den Status quo. Sie fordern auf zur Vorratshaltung (Vitamine bunkern) und Konsumbejahung (»Gib dem Naschen einen Sinn«), statt eigene Erfahrungen machen zu wollen.

Vorsorge für den Vorrat ist ein traditionell beliebtes Werbemotiv, auch wenn in der Regel der nächste Supermarkt um die Ecke liegt. Überflüssigerweise soll man sich die Dinge in größerer Menge zulegen, und wenn es nicht der Vorratshaltung dient, dann wenigstens dem Schnäppchen-Gefühl: Permanent wird ein Preisvorteil versprochen, wenn man zwei Produkte »auf einmal« statt nur eins davon erwirbt.

»Take it easy, but take it« war so ein Spruch aus den Nullerjahren, dessen Lockerheit bei näherer Betrachtung deprimierend wirkt, weil dieses Nehmen ein Hinnehmen ist, zwar verballhornt, aber es drückt dennoch einen Verzicht auf Teilhabe im »stahlharten Gehäuse der Hörigkeit« (Max Weber) aus. Die Aufforderung »Take it« ist ein Verwandter des älteren Ausspruchs »Kann man machen nix«, der scherzhaft formulierten Kapitulation vor den Zumutungen der Industriegesellschaft der 80er und 90er Jahre. In der Gegenwart drückt sie mit Klimawandel und politischem Autoritarismus noch stärker aufs Gemüt.

Anders als das positiv besetzte, religiös verbrämte »Geben« aus den Sonntagspredigten und Politikerreden, die Behauptung von Barmherzigkeit in einer völlig konträr dazu organisierten Ökonomie, hat das »Nehmen« einen demütigenden Touch. Eine Aktivität für das Passivbleiben. Es gibt die »Arbeitnehmer«, die darüber glücklich sein sollen, dass ihnen jemand »Arbeit gibt«. Oder man wird irgendwohin »mitgenommen«, wo man vielleicht gar nicht sein möchte, aber die Medien oder die Politiker oder eben »die Wirtschaft« einen haben wollen. Wer das nicht möchte, steht unter dem Verdacht, sich »wichtig zu nehmen« oder sich gar etwas »rausnehmen« zu wollen. Das geht eindeutig zu weit. Es soll keiner »aus der Reihe tanzen« im Konformismus, bei dem jeder mitmuss.

Nein, dem »Nehmen« geht es nicht gut. Man sollte es anders, verheißungsvoller formulieren: »Nimm dir, was du willst« ist doch ein alter schöner Zauberspruch aus Kino und Literatur. »Jetzt woll’n wir doch mal seh’n / Wie weit die Reise geht / Und wohin der Wind mich weht«, hatte Lindenberg gesungen. Soll man sich denn nicht mehr das nehmen, was man braucht? Das ist auf jeden Fall mehr als die Suche nach Vitaminen in Bonbons.

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