Syrien: »Die Situation bleibt weiter sehr unklar«

Israels Militäroperation in Syrien wird so schnell nicht enden, meint Politologe Michael Pellivert

  • Julia Dudnik und Roland Bathon
  • Lesedauer: 4 Min.
Israels militärisches Vordringen in Syrien wird international kritisiert. Jerusalem spricht von einer präventiven Maßnahme.
Israels militärisches Vordringen in Syrien wird international kritisiert. Jerusalem spricht von einer präventiven Maßnahme.

Seit dem Sturz des Regimes von Syriens Machthaber Baschar Al-Assad hat Israels Luftwaffe Hunderte militärische Einrichtungen in Syrien bombardiert. Bodentruppen sind zudem in die Pufferzone auf den völkerrechtlich zu Syrien gehörenden Golanhöhen und auch darüber hinaus vorgedrungen.

Aktuell mache sich Israel große Sorgen um die eigene Sicherheit, meint der israelische Politologe und Ex-Diplomat Michael Pellivert. »Israel geht von der durchaus logischen Annahme aus, dass es in Syrien in absehbarer Zeit keine stabile Machtstruktur geben wird. Dass ein langwieriger oder vollwertiger Bürgerkrieg stattfinden wird, der immer wieder auch auf israelisches Territorium übergreifen kann. Die Rebellen haben Waffen erbeutet, die zuvor Assad gehörten, und könnten diese gegen israelische Siedlungen richten«, sagt Pellivert im Gespräch mit »nd«. Zusätzlich verweist der Experte, in Israel prominent als politischer Kommentator auf dem russischsprachigen TV-Sender Kanal 9, auf eine antiisraelische Stimmung unter den in Syrien lebenden Palästinensern, die etwa fünf Prozent der Bevölkerung des Nachbarlandes ausmachen.

Internationale Kritik an Israels Vormarsch

Die Eroberung der Grenzgebiete sowie die Zerstörung der Waffen von Assads früherer Armee seien laut Pellivert eine präventive Maßnahme. Nach den Ereignissen vom 7. Oktober 2023 handele man an jedem Ort proaktiv, wo auch nur eine geringe Bedrohung für die nationale Sicherheit der Bevölkerung bestehe. So sei die Übernahme der Kontrolle über den Berg Hermon, der sich in der Pufferzone befindet, für Israel strategisch entscheidend. Von seinem Gipfel aus liege ein großer Teil israelischen Territoriums in Schussweite. Ein weiterer Grund für den Vorstoß seien laut dem Politologen inoffizielle Verpflichtungen, die Israel gegenüber den Drusen fühle, die in Syrien leben. Drusische Dörfer waren es, die Israel in der Gegend 1967 annektierte – noch 50 Jahre später sind dadurch drusische Großfamilien getrennt.

Die aktuelle Eroberung der syrischen Gebiete löste weltweit eine Welle negativer Reaktionen aus. Der Pressesprecher des Uno-Generalsekretärs, Stéphane Dujarric, bezeichnete sie als Okkupation und rief dazu auf, das 1974 geschlossene Abkommen über die Pufferzone auf den Golanhöhen zu respektieren. Russlands Präsident Wladimir Putin meinte sogar angesichts des israelischen Vorgehens, der jüdische Staat profitiere am meisten von der Situation in Syrien. Michael Pellivert bestreitet nicht, dass Israel seine Positionen im Nahen Osten in den letzten 14 Monaten tatsächlich verbessert hat. Hier sind die Meinungen in Israel geprägt von einem harten Konflikt, der seit der Gründung des Staates anhält.

Israel könnte Gebiete gegen Friedensgarantien tauschen

Pellivert geht davon aus, dass Israel das Fundament für einen möglichen Deal »Frieden gegen Land« vorbereitet und Syrien das eroberte Territorium zurückgibt, wenn die dortige Regierung Frieden garantiert. Dieses mögliche Angebot beträfe jedoch nicht die bereits langjährig besetzten Golanhöhen. Ein wichtiger Faktor sei hier Donald Trumps Rückkehr ins Weiße Haus. Noch 2019 erkannte Trump Israels Souveränität über den Golan an, und seine neue Administration werde aus proisraelischen Konservativen bestehen, wie beispielsweise Mike Huckabee, der für den Posten des US-amerikanischen Botschafters in Israel nominiert wurde. Huckabee geht sogar so weit, die Verwendung des Wortes »Palästinenser« für illegitim zu halten.

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Gerade die nicht geregelte Palästinenser-Frage stellt laut Pellivert das Hauptproblem Israels dar. »Mehr als fünf Millionen Menschen haben keinerlei politische Rechte innerhalb eines bestimmten Landes oder politischen Gebildes. Leider ist dies der Nährboden, auf dem zweifellos die nächste Form der Hamas entstehen wird, selbst wenn die derzeitige in ihrer jetzigen Form besiegt werden sollte«, so Pellivert zu »nd«. Man solle den Palästinensern eine Alternative zu Hamas anbieten, glaubt der Politologe, nur so könne man die Unterstützung der lokalen Bevölkerung gewinnen. Politiker könne so ein Schritt aber die Karriere kosten, denn in der israelischen Gesellschaft sei momentan ein Schwarz-Weiß-Denken verbreitet.

Ende von Israels Militäreinsatz in Syrien nicht absehbar

An einem baldigen Ende von Israels Militäroperation in Syrien zweifelt der Experte. »Die Situation bleibt weiter sehr unklar. Wir werden noch beobachten, was im Norden Syriens passiert. Es geht um die geplante Invasion der türkischen Armee, die beabsichtigt, zumindest einen Teil des kurdischen Gebiets zu kontrollieren. Und natürlich gibt es die Sorge, dass der Iran eine Rolle in der Nachkriegs-Syrien spielen könnte.«

Aber trotz des Misstrauens gegenüber den neuen syrischen Machthabern, die aus dem IS und anderen islamistischen Bewegungen stammen, hat der israelische Politologe Hoffnung auf eine Verbesserung der gegenseitigen Beziehungen. Die angebliche Entwaffnung palästinensischer Kämpfer zeige, dass man keine betont antiisraelische Einstellung habe.

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