- Politik
- Realitätsverlust
Alle zehn Minuten Zeitenwende
Im Zeitalter der Algorithmen zersplittert die Realität – jede Person erhält ihre eigene Wirklichkeit. Was bedeutet das für unsere Kämpfe?
Zeitenwenden machen ein politisches Umsteuern erforderlich. Wenn sich die Zeiten ändern, müssen wir als Gesellschaft mitziehen, uns den neuen Gegebenheiten, der neuen Realität anpassen. Was aber genau an der Realität, in der wir uns gerade befinden, neu ist, ist genau besehen weit weniger eindeutig, als es das inflationäre Auftauchen des Begriffs glauben machen könnte. Die Rede von der Zeitenwende bezieht sich nicht auf die Klimakatastrophe, nicht auf die Corona-Pandemie, nicht auf die vom Neoliberalismus in einen katastrophalen Zustand gesparte öffentliche soziale und technische Infrastruktur und auch nicht auf das politisch weitgehend ungehemmte Eindringen der Algorithmen und ihrer Funktionslogiken in unsere Beziehungen und immer mehr Bereiche unseres Lebens und Wahrnehmens.
Die Notwendigkeit zur gesellschaftlichen Veränderung geht, so scheint es, einzig vom Krieg und zwar ganz spezifisch vom Überfall Russlands auf die Ukraine aus. Darauf verengt sich die Realität im Begriff der Zeitenwende, aus der dann milliardenschwere und langfristig wirkende Konsequenzen gezogen und von Wähler*innen nachvollzogen werden sollen.
Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.
Personalisierte Wirklichkeit
Die Mehrheit der Menschen aber erlebt zurzeit eine andere, weit weniger verengte, sondern vielmehr zersprengte Realität. Tatsächlich tragen personalisierte Suchmaschinenergebnisse und Social Media Feeds dazu bei, dass sich unsere Realitäten immer weiter fragmentieren. Es ist nicht mehr so, dass wir nur unterschiedliche Zeitungen lesen, Fernsehprogramme schauen oder Webseiten surfen, sondern, es ist, als würde für jede Person ein eigenes Programm produziert, dass nur sie sehen kann. Wir können den Feed von unserer Nachbarin nicht lesen, wie wir mit der Fernbedienung den Kanal wechseln. Niemand weiß, was warum in seiner oder ihrer Timeline auftaucht und vor allem, was warum nicht.
Personalisierende Algorithmen wählen für jeden und jede das jeweils Passende aus. Was aber heißt das, das Passende? Es heißt nicht allein, dass ausgewählt würde, was uns passt, gefällt oder interessiert. Es bedeutet, dass die Inhalte ausgewählt werden, die in uns die Reaktionen und Verhaltensweisen hervorrufen, die den Unternehmensinteressen der jeweiligen Social-Media-Unternehmen passen. Je mehr Zeit wir auf den Plattformen verbringen, je mehr wir auf ihnen und mit ihnen interagieren und für sie produzieren, je mehr Werbung wir konsumieren und je mehr Informationen wir preisgeben, umso mehr steigen Einfluss und Gewinne der Tech-Giganten. Die Algorithmen appellieren dabei nicht an die Vernunft oder Bedürfnisse nach Kohärenz, sondern an die Emotionen ihrer User*innen. Je absurder, je schockierender, je angsteinflößender, je abwegiger die Inhalte, umso tiefer scrollen wir uns in die vermeintlichen Abgründe der Welt hinein, umso heftiger kommentieren und liken wir und umso dankbarer, umso gerührter sind wir dann, wenn uns ein niedliches Tierbaby in die Timeline gespült wird.
In Zuständen andauernder Alarmiertheit und Empörung oder erschöpften Doomscrollings ist es schwer zu hinterfragen, warum uns dieses oder jenes angezeigt wird oder warum und wie wir dazu konditioniert wurden, die Apps immer häufiger aufzurufen und immer mehr Zeit mit oder vielmehr in ihnen zu verbringen. Auch die sozialen Medien wollen uns davon überzeugen, dass wir vor einer Zeitenwende stünden, allerdings nicht alle zehn oder zwanzig Jahre, sondern mindestens alle zehn, zwanzig Minuten, weswegen wir noch mehr Zeit mit ihren Produkten verbringen sollen.
Die Welt, ein soziales Konstrukt
Die Folge dieses überfallartigen Überschusses an vermeintlichen News ist nicht nur, dass jede und jeder in einer eigenen Realität lebt, sondern dass wir permanent von neuen und zusammenhanglosen Realitätssplittern überwältigt werden. Gerade das Unvorhersehbare, unwirklich anmutende Ereignis oder das unmögliche Verhalten dieser oder jener Person des öffentlichen Lebens ist ja das, was einen Neuigkeitswert darstellt und unsere unmittelbare Reaktion herausfordert. Wie im Traum oder Albtraum folgt nichts einfach logisch oder nachvollziehbar aus dem bereits Bekannten. Weltbewegende, welterschütternde Neuigkeiten müssen geradezu alles bereits Bekannte infrage stellen. Mit diesen Fragen und Erschütterungen jedoch bleiben wir allein, denn unsere Nachbarin ist ja an ihre ganz persönlichen beziehungsweise personalisierten, welterschütternden Neuigkeiten ebenso panisch gefesselt. Uns fehlt die gemeinsam erlebte Realität, aus der heraus wir ihre Panik und ihr daraus abgeleitetes Verhalten nachvollziehen könnten. Wir erscheinen uns gegenseitig zunehmend irrationaler und somit beängstigender.
Die Welt und das Verhalten der anderen kommen uns umso surrealer vor, je weniger wir außerhalb dieser personalisierten Realitäten der sozialen Medien mit anderen Menschen interagieren. Dagegen hilft auch kein Wikipedia oder Faktencheck. Denn das Gegenbild zur surrealen, individualisierten und zersplitterten Realität ist nicht die eine wahre vollkommen kohärente Realität, sondern eine auf dem Konsens einer Offline-Gemeinschaft beruhende und an ihr erprobte Wirklichkeit. Dieser Konsens ist Gegenstand permanenter Annäherungs-, Aushandlungs- und Korrekturprozesse. Weltwissen, Welt und Realität überhaupt existieren für uns nicht außerhalb von zwischenmenschlichen Gemeinschaften, deren Mitglieder aus der geteilten Welt Konsequenzen für ihr Zusammenleben ableiten.
Auch von dieser Seite her ist die geteilte Realität zunehmend bedroht. Denn selbst wenn wir uns offline über die Lage auseinandersetzen und gemeinsam über Konsequenzen beraten, werden wir mit einer anderen, scheinbar unumstößlichen Realität konfrontiert, die uns von jeder Handlungsmöglichkeit abschneidet: der angeblich absoluten Notwendigkeit, zu sparen. Die Prozesse kollektiv konsensualer Aushandlung von Realität auf kommunaler Ebene zum Beispiel zerschellen am Spardiktat und an der Ohnmacht, in die es uns zwingt. Wie gewichtig, wie richtig, wie sinnvoll kann eine mühsam offline verhandelte Realität sein, wenn sie von jeder Möglichkeit abgeschnitten wird, gemeinsam von ihr ausgehend zu handeln, zu verändern, zu gestalten? Zieht man sich dann nicht lieber wieder in seine Feeds und Timelines zurück, wo jeder Inhalt den Like-Button, die Kommentarfunktion oder den Bestell-Link mitliefert?
Die neuerliche Welle an Austeritätspolitik, die die regierungsseitig verkündete Zeitenwende mit sich bringt, vernichtet sehenden Auges die letzten Überbleibsel einer Offline-Gesellschaft, die der Allgegenwart algorithmischer Anreizstrukturen etwas entgegensetzen könnten. Jugendarbeit, soziale Arbeit, politische Bildung, Kultur, Mobilität – die Offline-Welt und die Möglichkeit für Real-Life-Beziehungen werden mehr und mehr verengt, verknappt und verunmöglicht, während die Tech-Konzerne kontinuierlich an Macht und Einfluss gewinnen. Mit der Verknappung von Real-Life-Ansprechpartner*innen, Begegnungs- und Handlungsspielräumen, sowohl in der Öffentlichkeit als auch im Privaten, wird ein Vakuum erzeugt, in dem sich die psychotechnisch optimierten Algorithmen dann umso besser ausbreiten können. Man treibt die derart voneinander isolierten Individuen nicht nur auseinander, sondern treibt sie umso tiefer und vollständiger in die fragmentierenden Labyrinthe der sozialen Medien.
»Die Offline-Welt wird mehr und mehr verengt und verknappt, während die Tech-Konzerne an Macht und Einfluss gewinnen.«
-
Die Lösung liegt offline
Was zurückbleibt, ist das Gefühl des Chaos, der Angst und Empörung und die grundsätzliche Skepsis – die Grunderfahrung, permanent manipuliert zu werden. Die Ideologieproduktion, die gegenwärtig stattfindet, hat sich einem einfachen Verständnis des Marx’schen Satzes »Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche herrschende Gedanken« seltsam entwunden. Die Social Media optimierte Ideologieproduktion ist vielleicht eine, die den Interessen des Kapitals in die Hände spielt und jedes ihnen entgegenstehende kollektive Bewusstsein spaltet und fragmentiert. Aber sie hat längst den Anspruch aufgegeben, selbst irgendeinen internen logischen Zusammenhang, als Alternative zum proletarischen Klassenbewusstsein etwa, zu bieten. Sie hat sich der lästigen Fesseln der Kohärenz entledigt und begnügt sich damit, Chaos zu stiften und damit jeden Versuch der Bildung eines verbindenden Bewusstseins oder gar eines Klassenbewusstseins zu sprengen.
An der Ideologieproduktion muss uns heute vielleicht weniger interessieren, was sie behauptet, sondern, was sie und vor allem wie sie es bewirkt. Die algorithmisch sprengende Ideologie produziert einerseits Apathie und Isolation, universelles Misstrauen, Ohnmacht und Kapitulation angesichts einer vermeintlich undurchschaubaren Realität, die den Verhältnissen nicht gefährlich werden können. Andererseits löst sie überwältigende Gefühlswallungen aus: Angst, Empörung, Verunsicherung, blinden Hass und absolute Verehrung, die sich weit über einen Acht-Stunden-Tag hinaus ausbeuten lassen.
Wie soll ich mich mit Menschen solidarisieren, mit denen ich nichts mehr teile, nicht mal die Welt? Wie »realistisch« ist es angesichts dieser Ausgangslage noch, dass wir etwas verändern können? Vielleicht müssen wir uns in eine andere Richtung aus dem Labyrinth des gegenwärtigen kapitalistischen Irrealismus herausgraben und den Boden dessen verlassen, was uns gerade als Realität und somit als realistisch verkauft wird. Wenn uns weder die eindimensional verengte und verknappte Realität der Austerität als gemeinsame Basis dienen kann, noch die Realitätssplitter der digitalen Welt, besteht unsere Arbeit vielleicht zuallererst darin, gemeinsam eine andere Realität herzustellen. Diese Realität wäre ein Boden, den wir gemeinsam bilden, indem wir Beziehungen knüpfen und eine Welt, Erfahrungen, Alltag, Analysen, Geschichten, Räume und eine Praxis teilen oder uns überhaupt wieder aneignen, die Konsequenzen haben – offline. Die Frage wäre dann vielleicht weniger, was realistisch ist, sondern wie es realistisch wird oder wie wir was – und zwar für uns und nicht für die Algorithmen – zur Realität machen.
Luise Meier ist freie Autorin und Schriftstellerin. Kürzlich erschien ihr Roman »Hyphen«.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.