Rassismus und Elendskontrolle

Polizeiliche Tötungen und Massenkriminalisierung nehmen zu. Sie sind Teil des neoliberalen Strukturwandels

  • Anthony Obst und Vanessa E. Thompson
  • Lesedauer: 6 Min.
Während der Olympischen Spiele im August 2024 räumte die Polizei überall in Paris Obdachlosensiedlungen.
Während der Olympischen Spiele im August 2024 räumte die Polizei überall in Paris Obdachlosensiedlungen.

Die Fakten zur ungestraften Erschießung Mouhamed Dramés dürften mittlerweile vielen bekannt sein, auch wenn der öffentliche Aufschrei darüber bisher viel zu leise ausgefallen ist: Im August 2022 setzt eine Einsatztruppe aus insgesamt elf Polizist*innen in der Dortmunder Nordstadt im Garten einer Jugendeinrichtung einen 16-jährigen Geflüchteten aus Senegal fest, der sich in einer psychischen Krisensituation befindet. Er kauert in einer Nische und hält sich ein Messer an den Bauch. Nachdem eine Beamtin ihn mit Reizgas besprüht und zwei weitere ihn tasern, springt Mouhamed auf. Ein Beamter richtet ihn daraufhin mit sechs Schüssen aus einer Maschinenpistole regelrecht hin. Fünf Polizist*innen wurden daraufhin in dem Fall im Dezember 2023 angeklagt und ein Jahr später freigesprochen.

Polizeiliche Tötungen dieser Art sind keine Seltenheit in Deutschland – und nehmen rasant zu. Im Jahr 2024 starben 21 Menschen durch Polizeischüsse. Das sind mehr als doppelt so viele wie im Vorjahr. Polizeiliche Gewaltanwendung bleibt in aller Regel ungestraft, betonen sowohl Forscher*innen als auch »Copwatch«- und »Courtwatch«-Gruppen, die die Arbeit von Polizei und Justiz kritisch beobachten. Das wirft schwerwiegende Fragen zur Gewaltenteilung auf.

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Dabei stellt tödliche Polizeigewalt nur die extremste Form staatlicher Gewalt dar. Auch auf der Alltagsebene lässt sich eine Verschränkung rassistischer Polizei- und Justizpraktiken beobachten. Denn dasselbe Justizsystem, das die Polizist*innen im Fall Dramés von jeder Schuld freisprach, ist sehr strikt, wenn es gilt, arme und marginalisierte Menschen zu bestrafen, zu entrechten und zu enteignen.

Das 2021 gegründete Berliner Justice Collective, das sich kritisch mit der staatlichen Bestrafung von armen und rassifizierten Menschen auseinandersetzt, hat vor diesem Hintergrund das Forschungsprojekt »Racism on Trial« gestartet, mit dem untersucht und öffentlich gemacht werden soll, wie rassistisch markierte Personen in Deutschland spezifisch von der alltäglichen Massenkriminalisierung der Armut betroffen und wie polizeiliche Operationsweisen damit verknüpft sind.

Dass Rassismus und die Kriminalisierung von Armut zusammenhängen, liegt eigentlich auf der Hand. So sorgen strukturelle Hürden und Ausschlüsse dafür, dass etwa Asylbewerber*innen keine Arbeitserlaubnis oder keine beziehungsweise nicht ausreichende staatliche Leistungen bekommen. Die Bestimmung sogenannter »gefährlicher« oder »kriminalitätsbelasteter« Orte durch die Polizei befördert das illegale Racial Profiling – also die verdachtsunabhängige Kontrolle von Personen aufgrund ihrer Hautfarbe oder Erscheinungsbilds – und treibt dadurch auch die Verdrängung von bestimmten Menschen aus Innenstadtbezirken weiter voran.

Bei der Beobachtung von über 200 Strafprozessen hat die Kampagne »Racism on Trial« dokumentieren können, wie arme und marginalisierte Menschen in Deutschland systematisch und massenweise kriminalisiert werden. Hohe Geldstrafen, lange U-Haft und Gefängnisstrafen sowie aufenthaltsrechtliche Konsequenzen sind Ausdruck dieser Kriminalisierung.

Der »strafende« Rassismus richtet sich gegen die unteren Klassen aller Hautfarben.

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Die unterschiedlichen, jedoch verwandten Handlungsabläufe des Justizsystems sowie die fortschreitende Expansion polizeilicher Gewalt in Form der Ausweitung polizeilicher Macht – zum Beispiel die Reform der Landespolizeigesetze, Aufstockung von Polizeibudgets, Militarisierung der Polizei-Einheiten – sind durch eine bestimmte Erscheinungsform des Rassismus geprägt, der in der aktuellen gesellschaftlichen Konjunktur verstärkt auftritt: der karzerale Rassismus.

Als »karzeralen Rassismus« – man könnte auch von »strafendem« oder »einkerkerndem« Rassismus sprechen – beschreiben wir eine Form des Rassismus, der durch staatliche oder staatlich sanktionierte Gewalt wirkt. Diese Form des Rassismus produziert und untermauert materielle Ausschlüsse und richtet sich somit gegen die prekären Teile der Arbeiterklasse und die unteren Klassen aller Hautfarben. Rassifizierte Gruppen sind durch ihn besonders, aber keineswegs ausschließlich betroffen.

Die Entwicklung dieses karzeralen Rassismus steht in engem Zusammenhang mit dem neoliberalen Strukturwandel, dem es nicht einfach um den Rückbau wohlfahrtsstaatlicher Absicherung geht, sondern auch um eine Verschärfung von Kontroll- und Repressionsregimen. Während man Sozialhilfen kürzt, werden Institutionen wie Polizei, Gefängnis, Grenz- und Deportationssysteme ausgebaut und Sanktionstechniken halten auch zunehmend in Jobcentern und Sozialbehörden Einzug.

Kritische Rassismusforscher wie Stuart Hall in Großbritannien oder Ruth Wilson Gilmore in den USA weisen bereits seit den 80er und 90er Jahren auf die karzerale Entwicklung im Neoliberalismus hin. Als Strategie des staatlichen Krisenmanagements zur Kontrolle der verarmten, für das Kapital »überflüssigen« Massen gewinnen diese Strategien global an Bedeutung.

Der karzerale Rassismus organisiert die Gesellschaft entlang der Linien neoliberaler Produktivität. Er rationalisiert und formt die Differenz zwischen »integrierbaren« und hart arbeitenden »Fachkräften« – den Facharbeitern, schwarzen Diversity-Trainerinnen, Medienschaffenden oder Akademiker*innnen – einerseits und den »Untätigen« andererseits: denjenigen, die aufgrund von strukturellen Ausschlüssen oder der mangelnden Bereitschaft, am neoliberalen Wettbewerbsmarkt teilzunehmen, in illegalisierte Ökonomien oder prekarisierte Arbeitsverhältnisse gedrängt werden. Hierunter fallen unter anderem Wohnungslose, Drogennutzer, Clankriminalisierte. Der karzerale Rassismus unterscheidet nach ökonomischer Nutzbarkeit und nicht mehr in erster Linie nach Hautfarbe. Auch weiße Menschen aus den marginalisierten Teilen der Arbeiterklasse sind auf ihre Weise von Massenkriminalisierung betroffen.

Wer dieser Entwicklung entgegenwirken will, muss – wie es abolitionistische Gruppen schon lange fordern – Arbeitskämpfe um Fragen der Massenkriminalisierung und der systematischen Produktion von »Überflüssigkeit« erweitern. Kämpfe gegen Grenz- und Polizeigewalt, gegen städtische Verdrängung durch die Polizei und gegen das, was Ruth Wilson Gilmore »organisierte Vernachlässigung« nennt, sind Teil von Klassenkämpfen und ermöglichen die Organisierung der anwachsenden proletarischen »Unterklasse«. Umgekehrt dürfen sich aber auch radikale antirassistische Kämpfe nicht auf spezifische Formen oder Ausdifferenzierungen des Rassismus beschränken, wie viele »Copwatch«-Gruppen oder Initiativen gegen Polizeimorde seit Jahren hervorheben.

Zudem müssen die Kämpfe gegen den karzeralen Rassismus stets die Breite der Klasse ansprechen. Das heißt, nicht einfach nur die Abschaffung der Polizei oder des Gefängnisses zu fordern. Sondern gleichzeitig Kämpfe zu führen – für sozialen Wohnungsbau und nicht-privatisierte Gesundheitsversorgung, für öffentlich zugängliche Bildung und höhere Löhne, für Vergesellschaftung, Entlohnung von Care-Arbeit und Bewegungsfreiheit sowie gegen die massive Rettung von Unternehmen mit öffentlichen Geldern. Die Verschränkung von Rassismus und sozialer Kontrolle verweist, im Unterschied zum Antidiskriminierungs-Antirassismus, darauf, dass antirassistische Kämpfe nur in Form von Klassenkämpfen erfolgreich sein können – so wie Klassenkämpfe gleichzeitig ein umfassendes Verständnis der »Arbeitenden« benötigen.

Anthony Obst ist Mitarbeiter bei »Justice Collective«. Als Kulturwissenschaftler befasst er sich mit staatlicher Gewalt, racial capitalism und Widerstand.
Vanessa E. Thompson ist Soziologin und forscht zu Rassismus, staatlicher Gewalt und Abolitionismus.

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