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Zeit ist ein vertracktes Ding

Mal wird die Weile lang, meistens aber ist die Zeit zu knapp. Acht Glossen zur Zeit

  • Lesedauer: 16 Min.
Acht Glossen – Zeit ist ein vertracktes Ding

Zeitlos werden: Christin Odoj will mit dem Schlaf Schluss machen

Irgendeiner dieser düsteren Intellektuellen des 19. Jahrhunderts hat mal gesagt, dass Schlafen wie ein kurzer Tod sei. Rainer Werner Fassbinders Biografie wiederum heißt »Schlafen kann ich, wenn ich tot bin«. Was stimmt denn nun? Ist Schlaf lebensnotwendig oder gehört er abgeschafft? Es kommt darauf an, welchen Stellenwert man der Zeit in seinem Leben beimisst. Für die einen mag der Schlaf nach einem langen Tag erlösend wirken, andere wiederum empfinden ihn als lästig. Es gäbe so viel Besseres zu tun. Als Mutter oder Vater lernt man schnell, was einem fehlt, wenn der Schlaf über Jahre eher den Charakter eines Geschenks annimmt als etwas biologisch Notwendiges.

Man fragt sich in den ersten Monaten (eigentlich sogar Jahren) der Elternschaft ernsthaft, warum in drei Teufels Namen es einer Zivilisation, die Raketen zum Mars schicken will oder die so etwas wie Fusselrasierer erfindet, noch nicht gelungen ist, den Schlaf abzuschaffen. Dann hätte man das Problem mit dieser unendlich tief sitzenden, existenziell bedrohlichen Müdigkeit nicht.

Die gewonnene Zeit müsste natürlich gesetzlich geschützt sein (Gewerkschaften!). Diese (im besten Fall) acht Stunden müssten jedem Einzelnen zur absolut freien Verfügung stehen. Es werden also nicht plötzlich die Ladenöffnungszeiten bis ins Unendliche liberalisiert oder unter dem Deckmantel eines angeblich stark ausgeprägten Leistungswillens des Menschen 24/7-Flexiarbeitszeiten eingerichtet.

Man hätte endlich mal Zeit, Fotoalben zu sortieren, den Keller aufzuräumen oder einfach sinnlos zu existieren. Einzige Einschränkung (Stichwort Eltern): Menschen, die von anderen betreut werden müssen, behalten ihren bisherigen Schlafrhythmus bei, sonst landet man als Erziehungsberechtigter oder Pfleger*in in der Dauerentertainment-Hölle, beziehungsweise Dauer-Fürsorge.

Wie könnte man das Problem lösen, dass der Schlaf in seiner bisherigen Form notwendige Regenerationsprozesse möglich macht? Seine Energie würde der Körper künftig aus diversen sehr köstlichen Zuckerquellen speisen, die weder schädlich fürs Herz-Kreislauf-System sind noch für die Zahnsubstanz. Erlebnisse, gute wie schlechte, verarbeiten wir in Zukunft ausgelagert in einer App. Menschen, die nur sehr schlecht mit Langeweile umgehen können (Putin, Assad, Trump, Höcke), müssten vor Abschaffung des Schlafes auf jeden Fall noch eine Verhaltenstherapie machen. Und wer es unbedingt nicht lassen will, der kann in seiner neu gewonnenen Freizeit ja ein Nickerchen machen.

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Bloß nicht: Ines Wallrodt über das Zeitanhalten

Bei einer Redaktionskonferenz kam kürzlich die Idee auf, etwas zu schreiben darüber, wie es wäre, die Zeit anzuhalten. Ja, okay. Kann man machen, irgendwann, aber ausgerechnet jetzt? Was für eine Schnapsidee!

Abgesehen davon, dass privat alles paletti ist – Kinder wohlgeraten und noch knapp vor der Pubertät, Partner liebevoll, Familie, Freunde immer für einen da (und auch das Laubendach ist frisch repariert) – warum um Himmels willen sollte man gerade in diesen dunklen Zeiten die Zeit anhalten wollen? All das Gute war vor fünf Jahren auch schon gut (abgesehen vom Laubendach, aber das war damals ja noch nicht mal reparaturbedürftig). Aber wenn man von dieser kleinen privaten heilen Welt mal absieht, was bei einer großen Frage wie der nach der Zeit nur zu angemessen erscheint, dann ist doch schon der Gedanke, diese Zeit könnte länger währen, völlig daneben. Rechtsruck, Klimawandel, Abschottung und Aufrüstung und überhaupt, Gaza, Sudan, Ukraine, Jemen ... Der einzig nachvollziehbare Gedanke ist doch gerade nur die Flucht nach vorn. (Zurück verbietet sich für Linke auch irgendwie. Man ist ja nicht konservativ oder Sahra Wagenknecht.)

Es kann einfach nur besser werden. Na gut, im Januar nicht, im Februar auch nicht, aber mittelfristig bestimmt. Und wenn man das nicht glaubt, kann man sich eigentlich gleich ’nen Strick nehmen, was eine etwas makabre Interpretation des hier verhandelten Themas wäre.

Wahrscheinlich schreibt ein Kollege gerade gleichzeitig an einem Text, wie subversiv und dialektisch diese Idee gerade jetzt ist. Um das lesen zu können, müsste ich aber in der Zeit springen, jedenfalls hilft Anhalten auch hier nicht weiter. Aristoteles, Einstein oder Diederich Diederichsen haben bestimmt etwas Megaschlaues dazu geschrieben. Ich hab aber keine Lust, meine Zeit darauf zu verwenden, Zitatensammlungen im Internet zu durchforsten, bloß um hier jetzt gelehrt zu tun. Und den Faust’schen Teufelspakt habe ich jetzt auch nicht untergekriegt, weil das mit dem Verweilen und Immer-weiter-Streben bei näherer Betrachtung doch noch viel komplexer ist. Deshalb kann ich mein ganz unphilosophisches Nein zu dieser Zeit nur wiederholen. So wie es ist, darf es nicht bleiben. Deshalb: Vorwärts, und nie vergessen.

Weiter nach dem Stopp: Frédéric Valin über Auswege aus der Wiederholung

»Groundhog Day«, zu Deutsch: »Und täglich grüßt das Murmeltier«, gilt als einer der besten Filme der 90er Jahre, als eine der besten Komödien Hollywoods überhaupt, und allein der Titel ist derart tief in die Populärkultur hineinsedimentiert, dass er zum geflügelten Wort wurde. Es ist auch ein modernes Märchen: Der zynische TV-Journalist Phil Connors wacht immer und immer wieder am selben Tag auf, entdeckt seine Liebe zur holden Rita, nutzt die ihm geschenkten Tage, um der Mann zu werden, den Rita auch erhören würde; und gewinnt schließlich ihre Liebe, was ihn dann aus diesem Strudel zu entreißen vermag. Am Ende ist er ein besserer, ja: glücklicher Mann. Einen erfreuteren Sisyphos gibt es nicht, als wenn der vermaledeite Stein dann doch endlich mal liegen bleibt, weil man nett zu ihm und allen anderen Geröllsorten war.

Die Läuterung des Zynikers durch die Kraft der hehren und hingebungsvollen Liebe ist die süßliche Moral, die der Film erzählt: Eine Moral, die umso verführerischer ist, als dass sie derart offensichtlich nicht stimmt.

Die Produktionsgeschichte des Films dreht jene Moral vom Kopf auf die Füße. Denn die vordergründig so zauberhafte und originelle Idee, die dem Drehbuch zugrunde liegt, stammt nicht von Regisseur und Autor Harold Ramis. Das Script kopiert sehr deutlich eine Kurzgeschichte von Richard A. Lupoff, der dem Ganzen aber ein weit düstereres Gepräge gab: In der Story »12:01 PM« beschreibt Lupoff den Angestellten Myron Castleman, der sich immer um diese Zeit auf einer Verkehrsinsel wiederfindet und nach und nach zu verstehen beginnt, warum es überhaupt zu dieser Zeitschleife kommen konnte, die außer ihm aber niemand wahrnimmt. Seine Erkenntnis, sein Wissen hilft nur nicht viel: Es gibt nämlich keinen Ausweg aus dieser Zeitschleife. Angesichts dieser unentrinnbaren Lage schießt sich Castelman in den Kopf, nur, um sich im nächsten Moment wieder Punkt 12:01 Uhr auf dieser verdammten Verkehrsinsel wiederzufinden.

Die originale Geschichte wurde zweimal verfilmt, einmal als Kurzfilm und einmal im Langformat. Die kurze Version erhielt 1991 – zwei Jahre vor Erscheinen von »Groundhog Day« – einen Oskar, die lange Version aber kam einige Monate nach dem Murmeltier in die Kinos und floppte. Lupoff versuchte, Ramis und das Studio wegen des Plagiats zu verklagen, gab es aber nach sechs Monaten entnervt dran, um, wie er in einem Interview sagte, »mit unserem Leben weiterzumachen«.

Es ist schlussendlich auch die viel lustigere Moral: Der Erfinder der bekanntesten Zeitschleife der Filmgeschichte hat keinen Bock auf sich ständig wiederholende Meetings mit zynischen Anwält*innen und lässt den ganzen Bumms einfach hinter sich. Es gibt kein Happy End im Kapitalismus, nur ein »Augen zu und durch«.

Gorbatschow bitte melden: Frank Jöricke über spätes Glück im Kalten Krieg

In diesen seltsamen Zeiten ist es – siehe Syrien – schwer geworden, aufzudröseln, wer mit wessen Unterstützung gerade gegen wen kämpft. Da sehnt man sich nach den eiskristallklaren Verhältnissen des Kalten Kriegs zurück, in dem die USA und die UdSSR die Welt unter sich aufgeteilt hatten. Wenn sich irgendein übermütiges Regime doch mal dagegen auflehnte und sein eigenes Süppchen kochte, stellten Geheimdienste und Militär rasch die alte bipolare Ordnung wieder her. Dabei wurden auch fortschrittliche Regierungen wie die von Alexander Dubček (ČSSR, 1968) und von Salvador Allende (Chile, 1973) gnadenlos zermalmt. Das Gleichgewicht des Schreckens ließ es nicht zu, dass jemand die Waagschale wechseln wollte.

Aus diesem Grund schien auch die deutsche Wiedervereinigung unmöglich. Die BRD gehörte zur USA, die DDR zur UdSSR. Zumindest jenseits der Mauer lernte man mit dieser Zwangsmitgliedschaft gut zu leben. Im wörtlichen Sinn. Das »Wirtschaftswunder« wäre ohne die Milliarden an Dollars, die die Amis in die westliche Besatzungszone pumpten, kaum möglich gewesen. Mit wachsendem Wohlstand akzeptierten die Westdeutschen, dass sie in ihrem Leben ohne den Osten auskommen mussten. Die nationale Einheit interessierte kein Schwein mehr, solange man durch die Welt reisen konnte und dabei Spaß hatte. Spaß war wichtig. Zum ersten Mal in der deutschen Geschichte war »Lebensfreude« Teil des aktiven Wortschatzes. Man schaue sich nur BRD-Fernsehserien der 80er wie »Diese Drombuschs« an. Wie superfreundlich und tiefenentspannt diese Leute rüberkommen!

Damit war nach der Wiedervereinigung Schluss. Der Raubzug in der ehemaligen DDR, der unter dem Orwell’schen Neusprech-Namen »Treuhand« ablief, brachte Arbeitslosigkeit, Entwurzelung und Identitätsverlust. Das war der Moment, in dem viele Ostdeutsche anfingen, dem Kalten Krieg nachzutrauern. Aber auch im Rest der Welt war es vorbei mit der friedlichen Starre des politischen Permafrosts. Vulkanartig kochten überwunden geglaubte Konflikte wieder hoch. Deutschland war kaum wiedervereinigt, da zerbröselte bereits Jugoslawien. Mittlerweile hat man sich daran gewöhnt, dass alle möglichen Ethnien und Religionsgemeinschaften aufeinander losgehen. Und weit und breit ist keine Supermacht in Sicht, die diesem Irrsinn Einhalt geböte. Daher wünsche ich mir, man könnte die Zeit 1987 anhalten: Der Kalte Krieg fühlte sich dank Gorbi angenehm mild an, und das Wort »Zukunft« war noch ein Versprechen, keine Drohung.

200 Jahre arbeiten lassen: Stephan Kaufmann erklärt, wie man Zeit spart

Mit Zeit kann man viel falsch machen. Man kann sie verschwenden und verlieren. Tagediebe stehlen anderen die Zeit und schlagen die eigene mitunter tot. Da man die Uhr nicht anhalten kann, widmen die meisten Menschen Teile ihres Lebens einer eigenartigen Disziplin: dem Sparen von Zeit. Das ist eine Königsdisziplin. Denn Zeit verrinnt, man kann sie nicht anhäufen wie Geld, das Budget steht von vornherein fest, 24 Stunden pro Tag, und selbst wer viel Zeit spart, der beginnt jeden Tag bei null.

Ausgangspunkt des Bedürfnisses, Zeit zu sparen, ist ihr permanenter Mangel, sie fehlt auf der Arbeit, für Familie und Freunde, für Hobbys, Schlaf und Sport. Ursache für diese Not ist bei den meisten Menschen der Mangel an Geld, der über Arbeit behoben werden muss, das heißt über den Verkauf eines großen Teils des Tages an Unternehmen. Die zahlen dafür einen Lohn, allerdings nur, wenn unsere Arbeitszeit sich für sie lohnt, also einen Profit bringt. Und Profit bringt sie nur, wenn lang ist und jede Minute möglichst intensiv genutzt wird. Damit ist am Arbeitsplatz Zeitmangel („Stress“) normal, denn er ist gewollt und er endet nie. Im Kapitalismus wartet hinter jeder Deadline das nächste Rennen.

Menschen, die die Verfügung über große Teile ihres Lebens an Unternehmen abgetreten haben, versuchen häufig, diesen Verlust zu kompensieren: Sie werden ihr eigener »Zeitmanager«: Sie hetzen durch die Straßen, essen im Stehen, üben sich in Multitasking und Schlafverzicht. Die eigene Zeit zu sparen, macht arm.

Reich kann man dagegen werden, wenn man die Zeit der anderen spart. Das geht – über Geld. Denn Geld ist Zugriff auf die Lebenszeit der Menschen und auf die Produkte ihrer Arbeitszeit. In den USA besitzt das reichste Prozent der Haushalte im Durchschnitt einen Betrag, für den ein normaler Amerikaner 200 Jahre arbeiten müsste. So monopolisieren die Reichen die Zeit der Gesellschaft.

Für alle anderen bleiben nur Lotto – oder die gesellschaftliche Umwälzung. »Es gibt verschiedene Möglichkeiten, über Sozialismus zu sprechen«, schreibt der marxistische Geograph David Harvey auf der Plattform »X«, »aber diejenige, die mir an Marx am besten gefällt, ist, dass es beim Sozialismus um Freizeit und die Schaffung von immer mehr Freizeit geht.« Dabei könnte uns die Technologie unterstützen – alle Arbeit den Automaten! Laut Harvey sollte künstliche Intelligenz »eingesetzt werden, damit Menschen drei Tage die Woche arbeiten und den Rest der Zeit, die anderen vier Tage in der Woche, tun könnten, was sie verdammt noch mal wollen, und dabei frei sein«. Dazu muss aber nicht nur die künstliche, sondern auch die natürliche Intelligenz vom Profitzwang befreit werden.

Ewige Gegenwart: Julian Daum ist zeitblind

Zeit hat eine eindeutige, nicht umkehrbare Richtung und verläuft gleichmäßig und unaufhörlich fort. So habe ich es in der Schule gelernt, und daran gibt es eigentlich nichts zu rütteln, sagt die Physik. Und doch gibt es einige von uns, für die das nicht gilt, der die Physik vergessen hat Bescheid zu sagen, wie das mit der linearen Zeit funktioniert. Die stattdessen in Zeitkapseln leben und von einer Gegenwart zur anderen durch den zeitlosen Raum hüpfen. Zwischen den Ereignissen existiert die Zeit nicht. Stellen wir es uns so vor: Viele Menschen haben diesen Freund, den sie nur alle paar Jahre sehen, doch wenn sie sich wieder umarmen, ist es, als sei gestern erst das letzte Mal gewesen. Nichts an der Beziehung hat sich verändert, dieselbe emotionale Bindung steht weiterhin felsenfest, all die Zeit dazwischen hat nie existiert. Und nach einem schönen Abend macht sich die Zeitkapsel wieder auf durch den zeitlosen Raum.

Neurodivergente Menschen und besonders diejenigen mit ADHS kennen genau dieses Gefühl als Zeitblindheit. Mit dem Unterschied, dass sie nicht nur für den Freund gilt, für den die Regeln der Physik aufgehoben sind. Für sie verläuft jede Situation in ihrem Leben so und also Zeit buchstäblich anders. Sie wahrzunehmen will nicht so funktionieren, wie für andere. Einige mögen das für eine Superkraft halten: Die Genussfähigkeit des Lebens liegt ganz im Hier und Jetzt. Was kümmern die Deadline von morgen und die Steuererklärung von übermorgen. Sofern das Hier und Jetzt sorgenfrei ist, existiert nichts außer der Leichtigkeit des Seins.

Doch: Wenn die Deadline in unserer Gegenwart nie existiert, sondern immer nur irgendwo im zeitlosen Raum, werden wir sie kaum einhalten, und es steht die Kündigung ins Haus. Wenn die Steuererklärung in unserer Gegenwart nie existiert, werden wir sie kaum erledigen, und das Finanzamt pfändet das Konto. Eine zeitlose Wahrnehmung der Realität hat Konsequenzen in einer Welt, in der Zeit eine Ware ist.

Am schlimmsten ist jedoch der Herzschmerz, der damit einhergeht: Denn auch wir haben diese Freund*innen mit dem zeitlosen Platz in unseren Herzen, die in der ewigen Gegenwart existieren. Doch für die meisten von ihnen verläuft Zeit eben linear und immerfort. Für sie existieren zwischen unseren gemeinsamen Gegenwarten viele weitere kleine Gegenwarten, die sich von uns entfernen. Sie entwickeln sich und damit ihre Gefühle und Bindungen zu uns, während in unserer Zeitkapsel die Zeit und unsere Liebe zu ihnen stillsteht.

Das Glück ist ein Moment: Paula Knieper versucht, Alzheimer dialektisch zu betrachten

Ich habe nach dem letzten Ausbruchsversuch meiner Mutter aus dem Altenheim Konsequenzen gezogen: Sie wohnt jetzt hier in Berlin, auf Alt-Stralau, mit Spreeblick. Im »geschützten Wohnbereich«.

Als ich das Zimmer besichtigte, kam in mir fast der Wunsch auf, selbst dort einzuziehen. Endlich Ruhe, nur Möwengeschrei und der Wind. Naja, nicht ganz. Der gerontopsychiatrische Bereich hat es in sich. Auf so vielen Ebenen, schon ohne Pflegenotstand. »Come as you are«, so wie bei Nirvana, scheint das Motto der Station: Ohne Hose, Brille oder Zähne – aber vor allem ohne jegliche Erinnerung an das, was innerhalb der letzten halben Stunde passiert ist. Dies versetzt die Menschen in einen permanenten Ausnahmezustand der Angst und Verzweiflung, den ich mir kaum vorstellen mag, so grausam erscheint er mir. Um während der Aufenthalte auf der Station aber nicht jedes Mal in Tränen auszubrechen, habe ich mir vorgenommen, Alzheimer mit Humor zu betrachten – und als dialektisches Phänomen. Denn nicht nur sind Eigentumsverhältnisse unter diesen Umständen weniger relevant: Deins, meins, das sind doch bürgerliche Kategorien – das kommunistische Känguru hätte seine helle Freude, auch wegen der Schnapspralinen, die hier öfters mal gereicht werden. Sondern dem Vergessen wohnt auch eine seltene Qualität des einzelnen Augenblicks inne; es gibt nur das Erleben des absoluten Jetzt.

Kürzlich ereignete sich etwa Folgendes: Als wir es uns bei einem Besuch auf dem Zimmer gerade gemütlich gemacht haben, verschwindet meine Mutter immer mal wieder und kehrt nach kurzer Zeit zurück. Irgendwann bleibt sie ganz verschwunden, was nicht unbedingt ungewöhnlich ist, da sie sich ja nicht daran erinnern kann, dass ich zu Besuch bin. Also mache ich mich auf die Suche nach ihr und finde sie bald Händchen haltend mit einem Mitbewohner auf dem Sofa im Gemeinschaftsraum. Ich setze mich dazu, und prompt stellt der Herr mir meine Mutter als seine Zukünftige vor! Allerdings gäbe es Probleme mit der Eheschließung, die nötigen Papiere würden fehlen. Daher hätten sie beschlossen, sich nun »einfach so« das Ja-Wort zu geben. Meine Mutter lächelt vor sich hin, schweigt und genießt die zärtliche Zuneigung.

Als ich das nächste Mal zu Besuch bin, scheinen die beiden sich nicht zu kennen. Aber den Augenblick gab es, und ich erinnere ihn. Für meine Mutter, die nur im Moment lebt.

Sex gestern und morgen: Thomas Blum schlägt neuartige Spielfilme vor

Ich wundere mich nicht darüber, was beim in Spielfilmen beliebten Thema Zeitreise schon alles verhandelt wurde: Reisen in die Zukunft, um die Apokalypse zu verhindern; Reisen in die Vergangenheit, um die Zeugung oder Geburt späterer Diktatoren zu verhindern; versehentliche Reisen in die Zukunft, um dann feststellen zu müssen, dass diese wie die übelste Vergangenheit aussieht. Oder man denke an Zeitschleifen, in die man plötzlich gerät und aus welchen man sich nicht mehr befreien kann: Jeden Tag dasselbe, immer wieder, ohne dass ein Ende in Sicht wäre.

Was dabei gerne außer Acht gelassen oder übersehen oder als Gegenstand des Interesses unterschätzt wird: Sex. Das wäre doch mal ein Filmsujet, Zeitmanipulation und Sex.

Bei David Lynch (verstörender Thriller) oder Charlie Kaufman (bizarre Komödie) könnte das so aussehen: Der Protagonist lässt sich auf den Rat seines Therapeuten hin per Zeitmaschine in die Vergangenheit transportieren, um seiner eigenen Zeugung beizuwohnen, weil er sich nie vorstellen konnte, dass seine Eltern Geschlechtsverkehr hatten – und diesen auch noch miteinander.

Science Fiction: Die Hauptfigur lässt sich in die Gesellschaft der Zukunft versetzen – eine Art Matriarchat, in dem Männer entrechtete Arbeitsdrohnen sind, deren einziger Zweck darin besteht, dekorativ auszusehen und auf Wunsch sexuelle Dienstleistungen zu erbringen.

Romantic Comedy: Ein gelangweiltes Paar reist in die Zeit zurück, in der es sich kennengelernt hat, in der Absicht, seine frühesten sexuellen Abenteuer aufs Neue zu erleben. Beide verlieben sich nach turbulenten Verwicklungen jedoch erfolgreich in jemand anderen.

Horror: Beim Masturbieren mit einem Staubsauger passiert dem Hauptdarsteller ein unvorstellbar blutiger Unfall, in welchem Moment er unversehens in eine etwa 20-sekündige Zeitschleife gerät, in der er – nur Zehntelsekunden vor dem Orgasmus – den fürchterlichen Unfall wieder und wieder erleben muss.

Deutsche Komödie: Mitten in der Hochzeitsnacht von Jonas (Lars Eidinger) und Lisa (Alexandra Maria Lara), er Herzchirurg, sie FDP-Staatssekretärin, werden sie infolge eines illegalen physikalischen Experiments ihres Nachbarn, eines hochbegabten verrückten Wissenschaftlers (Dieter Hallervorden), in die grüne Ökodiktatur der nahen Zukunft katapultiert, in der sie sich gegen ihren Willen vegan ernähren und gendern müssen. Die Lebensfreude kehrt erst wieder zurück, als sie eine geheime Widerstandsgruppe gründen, in der man aus Protest riesenhafte Würste isst und einander frivole Herrenwitze erzählt.

Drehbuchanfragen gerne jederzeit an mich.

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