Verweigerte Mitbestimmung

20 Jahre Europäische Aktiengesellschaft: Kein Grund zum Feiern

Die Allianz war eines der ersten deutschen Unternehmen, die zur SE wurden.
Die Allianz war eines der ersten deutschen Unternehmen, die zur SE wurden.

Geoff Hayward wirkte glücklich. Er war im Jahr 2008 der erste britische Gewerkschafter, der in den Aufsichtsrat eines »deutschen« Unternehmens einzog, des Versicherungskonzerns Allianz in München. Möglich wurde dieser persönliche Glücksfall durch eine Änderung der europäischen Rechtslage. Zum Jahreswechsel 2004/05 trat ein Gesetz in Kraft, mit dem in Deutschland die Rechtsform der Europäischen Aktiengesellschaft eingeführt wurde, abgekürzt als SE (lat. Societas Europaea). Die SE ermöglichte es, in Unternehmen ab 1000 Beschäftigten, »europäische Betriebsräte« einzurichten, welche die Interessen der Belegschaft gegenüber dem zentralen Management vertreten. Der Versicherungsgigant Allianz konnte seine alte Aktiengesellschaft nach deutschem Recht, kurz AG, so abschütteln und sich in eine SE umwandeln.

Für die Beschäftigten in rund zwei Dutzend Ländern sollte sich durch die Neuaufstellung eine große Chance auftun: »Durch die europäische Brille betrachtet«, so damals Norbert Kluge vom europäischen Gewerkschaftsinstitut ETUI-REHS in Brüssel, »bringt die SE mehr Mitbestimmung nach Europa.« Und auch der seinerzeit für den größten europäischen Versicherungskonzern zuständige Verdi-Sekretär Jörg Reinbrecht sah »neue Qualitäten« mit Chancen für die betriebliche Interessenvertretung voraus. Beide Experten widersprachen damit der beispielsweise in der »Financial Times« und anderen kapitalfreundlichen Medien verbreiteten Meinung, dass der Einfluss der Arbeitnehmervertreter durch die SE quasi automatisch geschwächt werde.

In der Praxis hielt die neue Rechtsform zunächst unterschiedliche Möglichkeiten parat. So stammten bis dahin alle Arbeitnehmerräte in der klassischen Allianz AG aus Deutschland – dort arbeitete aber lediglich die Hälfte der weltweit Angestellten. Im ersten SE-Aufsichtsrat, dem Hayward angehörte, kamen dann die Mitglieder immerhin aus drei europäischen Ländern, die rund 75 Prozent der Belegschaft repräsentierten. Das neue Kontrollgremium operierte also von Anfang an weitaus internationaler als sein Vorgänger in der alten Allianz AG. »Davon werden wir auf lange Sicht profitieren«, gab sich der britische Betriebsrat und Neu-Aufsichtsrat Hayward damals optimistisch.

Inzwischen hat sich der wirtschaftspolitische Nebel gelichtet, und mancher Optimismus ist verflogen. Von den heute gut 700 operativ tätigen SE in der EU sind mehr als 400 Unternehmen mit Sitz in Deutschland. Für die hiesige Mitbestimmung ist dies zu einem »ständig weiter wachsenden Problem« geworden. Zu diesem Ergebnis kommt eine aktuelle Studie des Instituts für Mitbestimmung und Unternehmensführung (IMU) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung. Im Schnitt fünf von sechs der aktiven deutschen SE haben keinen paritätisch mitbestimmten Aufsichtsrat, wie ihn etwa gleich große Aktiengesellschaften nach deutschem Recht zwingend haben müssen.

Anders als bei einer deutschen AG oder GmbH, in denen die Mitbestimmungsgesetze ab 501 inländischen Beschäftigten ein Drittel der Sitze im Aufsichtsrat den Beschäftigtenvertretern garantieren und ab 2001 inländischen Beschäftigten die Hälfte, gelten bei der SE zwei weiche Grundsätze. Erstens: Mitbestimmung ist Verhandlungssache zwischen Management und Beschäftigten im Unternehmen. Und zweitens: Der zum Zeitpunkt der SE-Gründung festgeschriebene schwächere Mitbestimmungsstatus bleibt im Zweifel für immer bestehen.

»20 Jahre SE in Deutschland sind leider kein Grund zum Feiern, sondern zur Sorge«, sagt der wissenschaftliche Direktor des IMU, Daniel Hay. Und das nicht allein aus Beschäftigtensicht, denn wissenschaftliche Untersuchungen haben gezeigt, dass im Aufsichtsrat mitbestimmte Unternehmen sozial nachhaltiger, wirtschaftlich erfolgreicher sind und besser durch Wirtschaftskrisen und Umbruchphasen kommen. »Arbeitgeber, die Mitbestimmung sabotieren, schwächen damit also auch den Wirtschaftsstandort«, so Hay.

Die grassierende Mitbestimmungsvermeidung ist laut Hay Anlass genug, die enormen Schwächen in der SE-Gesetzgebung zu beheben, die durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes in Luxemburg noch verschärft werde. Die nächste Bundesregierung sollte das als Teil einer Initiative tun, die soziale Marktwirtschaft wieder zu stärken, fordert der Rechtswissenschaftler. Mitbestimmungsrechte müssten unabhängig von der jeweiligen Rechtsform eines Unternehmens verankert werden. Ins Bild passt, dass der britische Gewerkschafter Geoff Hayward im Aufsichtsrat der Allianz keine erkennbaren Spuren hinterlassen hat.

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