Kurzarbeit statt kürzer arbeiten

Die Wirtschaftsflaute dreht in Deutschland die Uhr für eine gerechtere Zeitverteilung zurück

Wurde von der aktuellen Wirtschaftsflaute in den Hintergrund gedrängt: die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung
Wurde von der aktuellen Wirtschaftsflaute in den Hintergrund gedrängt: die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung

Es ist rund ein Jahr her, da stellte die IG Metall selbstbewusst ihre Forderungen für die Tarifverhandlungen in der Eisen- und Stahlindustrie auf: Neben Lohnerhöhungen sollte die wöchentliche Arbeitszeit von 35 auf 32 Stunden bei vollem Lohnausgleich abgesenkt werden. »Diese Arbeitszeitverkürzung wäre der Einstieg in die Vier-Tage-Woche«, sagte der Bezirksleiter der nordrhein-westfälischen IG Metall, Knut Giesler, damals hoffnungsvoll. Er nahm damit eine Vorreiterrolle für eine gesamtgesellschaftliche Debatte in Anspruch.

Er konnte mit Unterstützung rechnen. So zeigte etwa eine Umfrage der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung aus dem Jahr 2023, dass 80 Prozent der befragten Beschäftigten einen freien Tag mehr pro Woche gut fänden – die meisten davon allerdings nur bei vollem Lohnausgleich. Als Gründe gaben sie an, mehr Zeit für außerberufliche Aktivitäten haben zu wollen. Neun von zehn Beschäftigten wünschten sich »mehr Zeit für die Familie«.

Auch mit Blick auf eine geschlechtergerechte Verteilung von Erwerbs- und unbezahlter Sorgearbeit wurde das befürwortet. Deutlich mehr Männer als Frauen arbeiten in Vollzeit und leisten Überstunden, weil es sich finanziell für heterosexuelle Paare aufgrund von Ungleichheiten bei Löhnen und Karrierechancen auszahlt. Neben der mangelnden Bereitschaft unter Männern, mehr Sorge- und Erziehungsaufgaben zu übernehmen, gilt das als Hauptgrund für die Mehrbelastung von Frauen.

In verschiedenen Ländern, darunter Island, Australien, Spanien und Großbritannien, starteten Pilotprojekte zur Erprobung von kürzeren Arbeitszeiten bei vollem Lohnausgleich. Studienergebnisse etwa der Universität Cambridge belegten weniger Stress, Krankheitstage und eine insgesamt höhere Zufriedenheit unter den Beschäftigten. Die Produktivität litt hingegen kaum.

Die Debatte nahm Fahrt auf, und auch Unternehmensverbände kamen nicht umhin, sich zu der Frage zu positionieren. So teilte die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände etwa mit, dass die Vier-Tage-Woche bei vollem Lohnausgleich »kein Arbeitszeitmodell für die Zukunft« sei. Stattdessen setzt sie sich für flexible Konzepte ein, die eher den wirtschaftlichen Realitäten der Betriebe gerecht würden. Dazu gehöre die Möglichkeit, den Arbeitstag über acht Stunden hinaus zu verlängern. Eine Forderung, die vom Bundesverband der Deutschen Industrie, geteilt von der FDP, aufgegriffen wurde.

Aus der 32-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich wurde in der Eisen- und Stahlindustrie vorerst nichts. Der Tarifabschluss sah am Ende lediglich ein Wahlmodell für einen freien Tag pro Woche vor, der nur teilweise vergütet wird: Wer ab Januar 2025 auf 33,6 Stunden reduziert, erhält 34,1 Stunden bezahlt. Die Verkürzung darf dabei »betrieblichen Interessen« nicht widersprechen. »Kollektive Arbeitszeitverkürzung für die Transformation« nannte das die IG Metall.

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Diese Transformation läuft zwar auf Hochtouren. So erhalten die Konzerne satte Subventionen für den Umbau der Werke zu emissionsärmerem, sogenannten Grünen Stahl. Doch reduzierte Stunden bei einem teilweisen Lohnausgleich dürften die wenigsten Beschäftigten in Anspruch nehmen. Aufgrund von Verwerfungen drohen derzeit Arbeitsplatzabbau und Standortschließungen. Etwa bei Thyssen-Krupp Steel, wo bis zu 11 000 Stellen wegfallen sollen.

Alarmiert von den Hiobsbotschaften aus der Stahl- und Automobilindustrie verlängerte Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) im Dezember die Bezugsdauer des Kurzarbeitergeldes von zwölf Monaten auf zwei Jahre. Die Nachfrage scheint groß: Im September lag die Zahl der Kurzarbeitenden laut Ministeriumsangaben bei rund 268 000, Tendenz steigend. Vor allem im verarbeitenden Gewerbe wird vermehrt darauf zurückgegriffen.

Ähnlich bei den Hennigsdorfer Elektrostahlwerken, die unter anderem die Automobil- und Zulieferindustrie beliefern. Ab Januar ruht dort die Produktion. Mit 680 Beschäftigten werde fast die gesamte Belegschaft für drei Monate in Kurzarbeit geschickt, erklärte das Unternehmen, das zum italienischen Konzern Riva gehört. Angesagt ist derzeit zeitweiliger Stundenabbau mit Lohneinbußen bis zu 40 Prozent. Das Konzept von dauerhaft mehr Freizeit und Geld ist in den Hintergrund getreten.

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