- Berlin
- Feuerwerk an Silvester
Kugelbomben in Berlin: Politischer Zündstoff
Entglaste Straßenzüge und zahlreiche Verletzte: Illegale Pyrotechnik sorgt für neue Böllerverbot-Debatte in der Hauptstadt
Sollte die Plattitüde von »bürgerkriegsähnlichen Zuständen« zum Jahreswechsel jemals halbwegs zutreffend gewesen sein, dann zur vergangenen Silvesternacht im Berliner Ortsteil Schöneberg. Ein Video des Instagram-Kanals »Das ist Berlin, Bitch!« zeigt, wie gegen 2 Uhr morgens ein illegaler Sprengsatz an der Vorbergstraße explodiert: Ein mächtiger Knall übertönt alles andere, Passant*innen versuchen, sich unter ihren Jacken vor herabregnenden Glasscherben zu schützen.
Fünf Menschen wurden durch die Detonation laut Berliner Polizei verletzt, eine 29-Jährige und eine 27-Jährige landeten im Krankenhaus. Sieben umliegende Gebäude wurden demnach bei der Detonation beschädigt, darunter eine Apotheke. Unbekannte nutzten die Gelegenheit und plünderten den entglasten Laden. 36 Wohnungen galten vorerst als unbewohnbar. Drei Personen wurden im Zusammenhang mit der Explosion festgenommen.
Hinter der Verwüstung in Schöneberg, so wie auch an anderen Orten in Berlin, vermuten Expert*innen sogenannte Kugelbomben. Die Sprengkörper, die bei professionellen Feuerwerken zum Einsatz kommen, sind für den Allgemeingebrauch in Deutschland nicht zugelassen. Während Profis damit für spektakuläre Lichteffekte am Himmel sorgen, können sie für Menschen bei unkontrollierter Explosion am Boden selbst auf weite Entfernung gefährlich werden. In anderen Ländern ist der freie Verkauf dennoch erlaubt. Auf Märkten hinter der Grenze zu Polen gehören Kugelbomben um den Jahreswechsel zum festen Sortiment. Auch selbst gebastelte Sprengsätze werden in Berlin zu Silvester immer wieder abgebrannt.
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»Die Einfuhr sogenannter Kugelbomben, die in Deutschland bekanntlich schon verboten sind, ist nur mit schärferen Grenzkontrollen zu verhindern«, sagt Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner (CDU) am Donnerstag. Er sieht in erster Linie die Bundesregierung in der Pflicht und fordert den kleinen Waffenschein für Schreckschuss-, Reizgas- und Signalwaffen. Ein Böllerverbot schließt Wegner hingegen aus: »Die allermeisten Berlinerinnen und Berliner haben den Jahreswechsel friedlich gefeiert. Warum sollten wir ihnen und ihren Familien eine fröhliche Silvesternacht mit traditionellem Feuerwerk versagen?«
In den Reihen der Berliner Grünen wird bezweifelt, dass sich das Problem mit schärferen Grenzkontrollen lösen lässt. »Der Zugang zu Massen an legalem Sprengstoff verwandelt die Stadt in ein regelrechtes Schlachtfeld«, teilt Vasili Franco »nd« mit. Der Innenpolitiker der Grünen-Fraktion im Abgeordnetenhaus hält ein bundesweites und vollständiges Verkaufsverbot für Feuerwerk für unumgehbar. »Im Schutze der Silvesternacht ist es unmöglich, legales von illegalem Böllern zu unterscheiden.«
»Wenige zentrale Feuerwerke statt flächendeckende Hantiererei mit Sprengstoff ist sicherer für alle.«
Niklas Schrader (Linke)
Innenpolitischer Sprecher im Abgeordnetenhaus
Der Senat müsse nun Farbe bekennen und Ernst machen mit der versprochenen Rückendeckung für Berlins Einsatzkräfte, so Franco. Die Ankündigung harter Strafen verhindere nicht, dass im Windschatten legalen Sprengstoffs Kugelbomben und andere illegale Pyrotechnik zum Einsatz kommen. »Wir dürfen nicht noch ein weiteres Jahr verlieren«, mahnt der Grünen-Abgeordnete.
Für kein absolutes, aber doch ein teilweises Böllerverbot plädiert die Hauptstadt-Linke. Niklas Schrader, innenpolitischer Sprecher der Partei im Abgeordnetenhaus, fordert, den freien Verkauf von Pyrotechnik ab F2-Klassifizierung einzustellen. Erlaubt wäre dann lediglich Kleinstfeuerwerk mit maximal 120 Dezibel wie Knallerbsen, Eisfontänen oder Bodenwirbel. Böller, aber auch das klassische Silvesterfeuerwerk wären tabu.
Wie der Regierende Bürgermeister schlägt auch Schrader höhere Hürden für den Verkauf von Schreckschuss- und Signalwaffen vor. »Hier hat die Bundesinnenministerin einfach nicht geliefert«, teilt er »nd« mit. Der Linke-Abgeordnete hofft, dass die Geschehnisse dieser Silvesternacht die Diskussion wieder aufleben lassen. Schärfere Einfuhrkontrollen für Pyrotechnik seien zwar wünschenswert, könnten dem Problem – gerade mit Blick auf selbst gebaute Sprengsätze – aber nicht beikommen. »Eine Einschränkung der Böllerei insgesamt könnte zumindest den Nährboden für die Taten einiger Irrer verringern. Wenige zentrale Feuerwerke statt flächendeckende Hantiererei mit Sprengstoff ist sicherer für alle.«
Berichte aus den Kliniken der Hauptstadt liefern den Befürworter*innen eines möglichen Böllerverbots weitere Argumente. Das Unfallkrankenhaus Berlin (UKB) berichtet am Donnerstag von mehreren schweren Verletzungen durch Kugelbomben an Händen, Gesicht und Augen, auch bei Kindern. Andere Betroffene hätten Hörschäden bis hin zu dauerhaftem Hörverlust davongetragen. »Das größte Problem ist die extreme Sprengkraft der Kugelbomben«, teilte eine Sprecherin mit. »Dadurch bekommt das Auge nicht mehr die Zeit, das Lid zu schließen.« Derzeit werde ein Mann im UKB behandelt, der sein Augenlicht durch die Explosion einer Kugelbombe verloren hat. Mit dpa
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