Erdoğans Ränkespiel auf dem Weg zur Regionalmacht

Die Regierung Erdoğan will sich zur Regionalmacht aufschwingen und setzt dabei neben militärischen Mitteln auch auf Verhandlungen

Bei der Verteidigung der Stadt Kobane gegen die IS-Miliz starben zwischen 2013 und 2015 Tausende kurdischer Kämpfer*innen.
Bei der Verteidigung der Stadt Kobane gegen die IS-Miliz starben zwischen 2013 und 2015 Tausende kurdischer Kämpfer*innen.

Nachdem der syrische Bürgerkrieg fast ein Jahrzehnt lang eingefroren gewesen ist, scheinen sich nun die Ereignisse zu überschlagen. Von der politischen Neuordnung der Region erfasst werden könnte auch die Türkei, in der etwa 15 Millionen Kurd*innen seit langem für mehr demokratische und kulturelle Freiheiten kämpfen. Nachdem sich am Donnerstag die Abgeordneten der prokurdischen DEM-Partei Sırrı Süreyya Önder und Pervin Buldan mit dem Vorsitzenden der faschistischen MHP Devlet Bahçeli getroffen haben, gibt es erstmals seit 2015 wieder vorsichtige Hoffnungen auf eine Verhandlungslösung für den kurdischen Konflikt. Denn alles deutet darauf hin, dass Staatspräsident Recep Erdoğan seinen rechtsextremen Koalitionspartner vorgeschickt hat, um weitere Gespräche vorzubereiten.

Dabei bleibt allerdings unklar, wie weit das Interesse der türkischen Regierung wirklich reicht. Offenkundig setzt Ankara auch weiterhin massiv auf die militärische Karte. Im syrischen Bürgerkrieg unterstützte die Türkei in den vergangenen Jahren verschiedene Milizen, darunter auch den Islamischen Staat. Immer wieder wurden bei gefallenen IS-Kämpfern Unterlagen gefunden, die auf eine logistische Kooperation zwischen türkischem Geheimdienst und IS hinwiesen.

An dieser Haltung hat sich nichts Grundlegendes geändert. Die Türkei, der es eher um ökonomisch-nationalistische als um religiöse Ziele geht, hat mit ihren Verbündeten schon vor Wochen eine militärische Offensive gegen die Selbstverwaltungsgebiete in Nord- und Ostsyrien (AANES) gestartet. Während die HTS-Milizen Diktator Assad aus Damaskus vertrieben, rückte die von Ankara kontrollierte SNA im Norden auf die Grenzstadt Kobane vor, um die türkische Pufferzone weiter auszubauen.

Diese Operation ist allerdings auf Hindernisse gestoßen. Einerseits scheinen die kurdisch dominierten SDF der islamistischen SNA empfindliche Verluste zugefügt zu haben und mit der Entwicklung eigener Drohnen auch an der türkischen Luftdominanz zu kratzen. Zum anderen gibt sich die Biden-Regierung entschlossen, die Türkei in ihre Grenzen zu verweisen. Völlig überraschend begannen US-Militärs Mitte der Woche mit dem Aufbau eines Stützpunkts in Kobane. Die Türkei wäre bei ihrer geplanten Offensive also gezwungen, sich mit dem Nato-Partner anzulegen.

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Die türkisch-kurdischen Gespräche werden allerdings schon sehr viel länger vorbereitet. Offenbar will sich Erdoğan mit ihnen verschiedene Optionen offenhalten. Sein Hauptprojekt besteht in der Wiedererrichtung alter Einflusszonen des Osmanischen Reichs. Durch den Sturz Assads und die Schwächung des Iran eröffnet sich für dieses Vorhaben eine einmalige Gelegenheit. Voraussetzung dafür ist, dass es Erdoğan in Syrien gelingt, ein einigermaßen stabiles und von ihm abhängiges Regime zu errichten.

Damit allerdings könnte er in Widerspruch zu den USA geraten, die weiter über eine Aufteilung Syriens in Einflusszonen nachdenken. Die Errichtung kurdischer und drusischer Gebiete würde den Einfluss der neuen Machthaber in Damaskus begrenzen – was wiederum Israels Interessen entgegenkäme. Vor diesem Hintergrund wurde in der konservativen »Jerusalem Post« in den vergangenen Tagen darüber debattiert, ob sich Israel auf die Seite der Kurd*innen schlagen sollte. Der Sicherheitsanalyst Atar Porat erteilte dieser Idee eine klare Absage. Beim geopolitischen Pokerspiel sollte »Israel als Regionalmacht seine neue und verbesserte geopolitische Position nutzen, um seine Sicherheitsinteressen zu stärken, indem man auf ›kluge‹ und realitätsbasierte Optionen statt auf Wunschdenken setzt«, formulierte der israelische Kommentator. Die Unterstützung der Kurden sei keine zukunftsfähige Option.

Sicher ist, dass das basisdemokratische und feministische Projekt in Nord- und Ostsyrien von allen mächtigen Akteuren gehasst wird. Doch weil die USA die Kurd*innen als Instrument zur Einhegung islamistischer und türkischer Machtansprüche betrachten, könnte umgekehrt Erdoğan der Meinung sein, dass ihm eine Deeskalation des kurdischen Konflikts nützt. Zumindest kurzfristig.

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