Hierarchiebrecher in der Medizin

Das Projekt Echo will die Gesundheitsversorgung in ländlichen Gemeinden verbessern und das Fachwissen demokratisieren

New Mexico ist dünn besiedelt, es gibt große Entfernungen zurückzulegen, um eine Fachklinik zu erreichen. Auch deshalb hat das Projekt Echo in diesem US-Bundesstaat seinen Anfang genommen.
New Mexico ist dünn besiedelt, es gibt große Entfernungen zurückzulegen, um eine Fachklinik zu erreichen. Auch deshalb hat das Projekt Echo in diesem US-Bundesstaat seinen Anfang genommen.

Bei einer Beta-Thalassämie werden bestimmte Eiweißketten im Blut in zu geringem Ausmaß oder gar nicht gebildet. Grund dafür sind angeborene Veränderungen der Erbsubstanz, die Betroffene ihr ganzes Leben begleiten. Besonders für Kleinkinder kann die Krankheit gefährlich sein. Symptome sind eine zunehmende Blässe, Ermüdbarkeit, Wachstumsstörungen, Knochendeformationen, auch Leber und Milz können geschädigt werden. Wichtig ist es daher, dass früh die Erkrankung früh diagnostiziert wird und die Behandlung startet.

Allein in Indien werden jährlich laut Schätzungen 10 000 bis 15 000 Kinder mit einer Beta-Thalassämie geboren. Doch Spezialisten für Kinder-Blutkrankheiten sind rar, insbesondere in den großen ländlichen Gebieten des Subkontinents. Das gemeinnützige Projekt Echo widmet sich dem Problem, indem Ärzte, Krankenschwestern und medizinisches Personal vor Ort per Telementoring geschult werden. »Wir hoffen, mit diesem Programm ein landesweites Netzwerk von Gesundheitsfachkräften zu schaffen«, sagt Arun Kumar Singh vom Institute of Child Health in Noida, welches das Projekt im Bundesstaat Uttar Pradesh unterstützt. »Dies ist ein entscheidender Schritt, um die Belastung unseres Gesundheitssystems durch diese Krankheit zu verringern.«

Es geht auch anders

Der tägliche Strom an Nachrichten über Krieg, Armut und Klimakrise bildet selten ab, dass es bereits Lösungsansätze und -ideen, Alternativprojekte und Best-Practice-Beispiele gibt. Wir wollen das ändern. In unserer konstruktiven Rubrik »Es geht auch anders« blicken wir auf Alternativen zum Bestehenden. Denn manche davon gibt es schon, in Dörfern, Hinterhöfen oder anderen Ländern, andere stehen bislang erst auf dem Papier. Aber sie zeigen, dass es auch anders geht.

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Vor 20 Jahren in den USA entwickelt

Auch wenn Echo wie maßgeschneidert für den globalen Süden erscheint, entwickelt wurde das Projekt vor fast genau 20 Jahren im Süden der USA. Auf die Idee brachte den Mediziner Sanjeev Arora ein einschneidendes Erlebnis: Zu dem Gastroenterologen am Universitätsklinikum von New Mexico in Albuquerque kam eine 43-jährige Patientin mit Hepatitis C, die acht Jahre lang unbehandelt mit der Krankheit gelebt hatte und bereits an Leberkrebs erkrankt war, und dies unheilbar. Dabei gab es schon damals Behandlungsmöglichkeiten, doch diese waren in ihrer ländlichen, unterversorgten Gemeinde nicht verfügbar. »Sie starb, weil das richtige Wissen nicht zur richtigen Zeit am richtigen Ort vorhanden war«, sagte Arora am Rande des Weltkrebskongresses 2024 in Genf. »Das medizinische Wissen explodiert, aber es wird oft nicht die letzte Meile zurückgelegt.«

Dabei kamen und kommen Hepatitis-Viruserkrankungen sehr häufig vor, allein in den USA geht man von drei Millionen chronisch Erkrankten allein mit der C-Variante aus – eine Zahl, die sich in der Opioidkrise deutlich vergrößtert hat. Experten sprechen von einer »stillen Epidemie«, auch weil Infektionen oft lange Zeit unerkannt bleiben. Ein Grund: Patienten, berichtet Arora, hätten seinerzeit Monate auf einen Termin warten müssen und die Anreise zu regelmäßigen Behandungen über Hunderte Kilometer gescheut. »Es waren arme Menschen. Sie hatten einfach nicht die Mittel, um diese Fahrten zu unternehmen.«

Der indischstämmige Arzt wollte Experten aus Fachkliniken mit lokalem Gesundheitspersonal in unterversorgten Gebieten verbinden und gründete das Projekt Echo, eine Abkürzung für Extension for Community Healthcare Outcomes. Sein Ansatz basiert auf dem Logistikmodell »Hub and Spoke«: Der Krankenhausarzt fungiert als »Knotenpunkt«, von dem aus über Videokonferenzen mehrere »Speichen« in die Gemeinschaften vor Ort abgehen. Man setzt auf »fallbasiertes Lernen« von Leistungserbringern, das in beide Richtungen gehen soll und einer ständigen Fortbildung gleicht, und das in einem sicheren, moderierten Umfeld. Gerade neue, bewährte Methoden könnten, so die Hoffnung, »in Echtzeit« weitergegeben werden. Auch sollen die Stimmen der Patienten bis zu einem gewissen Grad von den lokalen Klinikern, die sie gut kennen, in die Diskussionen eingebracht werden. Was Arora vorschwebt, ist, »Fachwissen durch Technologie zu demokratisieren«.

Unaufhaltsame Revolution

»Es ist eine Revolution, die wir nicht aufhalten können«, meint Max Watson, ein britischer Spezialist für Palliativpflege. Die dortige Hospizbewegung nutzt ebenfalls den Echo-Ansatz. Im besten Fall könnte er laut Watson helfen, die hierarchischen Strukturen im Gesundheitswesen abzuschaffen, bei denen die Krankenhäuser die Quelle allen Wissens sind, und »gemeinsame, gemeinschaftsbasierte Netzwerke« zu entwickeln. Das Fachmagazin »British Medical Journal« spricht in diesem Zusammenhang von »hierarchy disruptors«, Hierarchiebrechern.

Die erste Echo-Sitzung startete 2003 mit weniger als zwei Dutzend Ärzten der Primärversorgung im ländlichen New Mexico. Trotz Anfangsschwierigkeiten waren die Ergebnisse Arora zufolge erstaunlich: In nur 18 Monaten verkürzte sich die Warteliste für die Hepatitis-C-Behandlung in der Klinik von acht Monaten auf zwei Wochen. Es gebe einen »Kraft-Multiplikator-Effekt«, schreibt Arora in einem Beitrag für das Fachblatt »The Lancet«: »Ein Experte kann Dutzende unterrichten, und diese können Hunderten helfen.«

Das Modell verbreitete sich in den gesamten USA und darüber hinaus, zudem auf weitere der dringendsten Gesundheitsprobleme der Welt wie HIV, Tuberkulose, Krebs und psychische Erkrankungen. Es kommt auch bei der ärztlichen Betreuung von Strafgefangenen, Menschen mit Diabetes oder Autismus und Drogenabhängigen zum Einsatz. Das mittlerweile patentgeschützte Non-Profit-Modell kommt mittlerweile in mehr als 200 Ländern und Regionen zum Einsatz, verfügt über mehr als 13 000 Knotenpunkte und fast 7000 spezialisierte Netzwerke.

Im Grunde stärkt Echo auch die öffentlichen Gesundheitssysteme, die durch Kürzungen und Privatisierung zunehmend unter Druck stehen, und setzt an vielen bestehenden Mängeln in der Versorgung an: Spezialisten sind überlastet, haben lange Wartelisten, zu viele Patienten und wenig Zeit für sie. Auf dem flachen Land ist die Versorgung oft deutlich schlechter. Ärzte sehen sich als Konkurrenten an und behalten Spezialwissen lieber für sich, Fachleute wollen immer recht haben. Im Grunde ist das Projekt auch ein Gegenmodell zur geplanten Krankenhausreform in Deutschland, die eine bessere Versorgung durch Konzentration von Fachwissen in bestimmten Kliniken herstellen will. Echo hingegen will dieses verbreitern, um eine umfassende, gemeindenahe Gesundheitsversorgung sicherzustellen.

In Deutschland kaum verbreitet

In Westeuropa ist Echo indes kaum verbreitet, in Deutschland gar nicht. Offenbar fehlt es hier an Bereitschaft, Wissen zu teilen und dafür Zeit zu opfern. In Großbritannien startete das erste Projekt wenig überraschend fernab der englischen Metropolen: In Nordirland verband ein Netzwerk 21 Optiker und Optometristen mit einem Professor für Augenheilkunde, weil Patienten mit Glaukom und Makuladegeneration lange Wartezeiten auf einen Termin im einzigen geeigneten Krankenhaus des Landesteils in Belfast hatten. Inzwischen gibt es 35 Projekt-Echo-Netze in Nordirland und 25 weitere im übrigen Vereinigten Königreich in verschiedenen Fachbereichen. Der Vorteil Nordirlands ist, dass der Staat hier Mediziner für die Zeit bezahlt, in der sie an den Sitzungen teilnehmen. In den anderen Landesteilen wird dies lediglich als Teil der ärztlichen Ausbildung angesehen.

In Südafrika wurde das Echo-Modell zunächst angewendet, um Ungleichheiten in der Krebsversorgung zu beseitigen. Die Erkrankung wurde oft erst im Spätstadium diagnostiziert. Da Onkologen ungleich verteilt sind, sind Mitarbeiter des ländlichen Gesundheitswesens für Patienten die erste Anlaufstelle. Daniel Osei-Fofie, Facharzt im Krankenhaus von Kimberley (Provinz Nordkap), berichtete gegenüber »The Lancet« davon, dass wegen ähnlicher Symptome statt Lungenkrebs fälschlicherweise oft Tuberkulose diagnostiziert wurde, was zu gefährlichen Verzögerungen bei der Behandlung führte. Er verwies aber auch auf Probleme mit Echo: »Es ist schwierig, eine virtuelle Klinik zu betreiben, wenn man nicht einmal eine stabile Internetverbindung hat.« Dies gelte gerade für die Gebiete, wo der Bedarf am größten sei.

Begrenzungen und Erfolge

Nicht nur wegen technischer Probleme sind die Möglichkeiten von Echo aber auch begrenzt: Zwar biete das Online-Lernen einen schnellen Informationsaustausch, doch es bestehe die Gefahr, dass medizinische Kernkompetenzen dadurch verwässert werden, meint etwa die Medizinerin Aanika Warner. »Es gibt eine Obergrenze für das, was man virtuell lernen kann.« Watson weist darauf hin, dass das Modell zwar das richtige Umfeld für die Entstehung von Lösungen schaffen, nicht aber notwendige strukturelle Veränderungen ersetzen kann. In den ärmsten Ländern gibt es in bestimmten Gegenden weit und breit nicht einmal eine einfache Gesundheitsstation. Das Problem sieht auch Arora: »Der wahre Sieg wird erst dann eintreten, wenn der Einfluss von Projekt Echo die am stärksten marginalisierten Bevölkerungsgruppen erreicht hat und ihnen das Wissen und die Pflege bietet, die sie dringend benötigen.«

Dennoch gibt es Erfolge, wie auch verschiedene Evaluierungen ergeben haben. Echo India zum Beispiel wurde 2008 gegründet, um die Chancengleichheit im Gesundheits- und Bildungswesen zu fördern. Seither wurden in Zusammenarbeit mit Partnern über 250 Zentren eingerichtet und 800 Programme zum Aufbau von Kapazitäten nicht nur bei Beta-Thalassämie, sondern auch bei mehr als 30 weiteren Krankheitsbereichen durchgeführt. An diesen Programmen haben nach eigenen Angaben landesweit mehr als eine Million Mitarbeiter des Gesundheitswesens und Ausbilder teilgenommen. Und die Ansprüche sind hoch: Man hat es sich zum Ziel gesetzt, bis Ende 2025 das Leben von 400 Millionen Patienten in Indien zu verbessern.

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