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ÖVP will mit der FPÖ

Nach Nehammers Rücktritt zeigt sich die Österreichische Volkspartei offen für Koalitionsgespräche

  • Stefan Schocher, Wien
  • Lesedauer: 5 Min.
Nach dem Abbruch der Koaltionsverhandlungen und dem Rücktritt des Vorsitzenden der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) muss nun Bundespräsident Alexander Van der Bellen entscheiden, ob er FPÖ-Chef Herbert Kickl mit der Regierungsbildung beauftragt.
Nach dem Abbruch der Koaltionsverhandlungen und dem Rücktritt des Vorsitzenden der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) muss nun Bundespräsident Alexander Van der Bellen entscheiden, ob er FPÖ-Chef Herbert Kickl mit der Regierungsbildung beauftragt.

Zurück auf Start heißt es in Wien: Österreichs konservative Kanzlerpartei ÖVP zeigt sich offen für Verhandlungen mit der rechten FPÖ über eine Regierungskoalition. Die ÖVP wolle solche Gespräche führen, wenn sie dazu eingeladen werde, sagte der designierte Parteichef Christian Stocker am Sonntagnachmittag.

Ebenfalls am Nachmittag kündigte Bundespräsident Alexander Van der Bellen an, er werde am Montag mit FPÖ-Chef Herbert Kickl über eine Regierungsbildung reden. Er habe den Eindruck, dass die Stimmen in der ÖVP, die eine Zusammenarbeit mit Kickl ausschließen, deutlich leiser geworden seien. »Das wiederum bedeutet, dass sich möglicherweise ein neuer Weg auftut.« Das könnte bedeuten, dass FPÖ-Chef Herbert Kickl Österreichs neuer Kanzler wird.

Koalitionsgespräche ohne FPÖ gescheitert

Der Versuch eine Koalition unter Ausschluss der rechtsradikalen, offen pro-russischen FPÖ zu schmieden, ist damit gescheitert. Die konservative ÖVP hatte ihre Gespräche mit der sozialdemokratischen SPÖ beendet, teilte Kanzler und ÖVP-Chef Karl Nehammer am Wochenende mit. Gleichzeitig kündigte er an, in den kommenden Tagen als Regierungs- und Parteichef zurückzutreten.

Am Freitag hatte bereits die liberale Kleinpartei NEOS ihren Ausstieg aus den Gesprächen bekanntgegeben. Damit steht das Land vor tiefgreifenden Veränderungen: Eine Mehrheit zwischen der konservativen ÖVP und den Sozialdemokraten (SPÖ) wäre zwar rein theoretisch möglich, ist aber unwahrscheinlich. Kanzler Karl Nehammer, der der ÖVP bei der Wahl Ende September ein Minus von mehr als elf Prozent beschert hat, war schwer angezählt und zieht sich nun ganz zurück. Neuwahlen sind für alle Parteien außer der FPÖ aber ebenso eine heikle Angelegenheit: Die FPÖ hat seit ihrem Erdrutschsieg bei der Wahl im September, bei der sie 29 Prozent der Stimmen erreichte, laut Umfragen noch einmal um gute acht Prozent zugelegt und liegt aktuell bei 35 Prozent.

Kanzler Nehammer tritt zurück

Nach dem Rücktritt Karl Nehammers als Kanzler und ÖVP-Chef soll der bisherige Generalsekretär der Konservativen, Christian Stocker, die Partei als Interimschef leiten. Darauf habe sich die Parteispitze geeinigt, hieß es aus der ÖVP. Stocker gilt als erfahrener Krisenmanager und trat bislang als entschiedener Gegner der FPÖ in Erscheinung: »Herr Kickl, es will Sie niemand in diesem Haus. Auch in dieser Republik braucht Sie keiner«, sagte er noch im Dezember im Parlament. Wer die Regierungsgeschäfte bis zur Bildung einer neuen Koalition führen soll, blieb zunächst offen. Es werde wohl jemand gesucht, der im Unterschied zu Nehammer bereit sei, als Juniorpartner mit der rechten FPÖ zu regieren, hieß es aus parteinahen Kreisen.

Ex-Kanzler Sebastian Kurz steht als Nachfolger jedenfalls nicht zur Verfügung. Das erfuhr die Deutsche Presse-Agentur aus dem Umfeld von Kurz. Funktionäre seiner Partei hatten Hoffnungen auf sein Comeback gesetzt. Kurz hatte zwar von 2017 bis 2019 eine Koalition mit der FPÖ angeführt. Als Vizekanzler stünde er jedoch nicht zur Verfügung, hieß es aus seinem Umfeld.

»Herr Kickl, es will Sie niemand in diesem Haus. Auch in dieser Republik braucht Sie keiner.«

Christian Stocker Neuer Interimschef der ÖVP bei einer Parlamentsdebatte im Dezember

Den Ausstieg aus den Koalitionsgesprächen begründete NEOS-Chefin Beate Meinl-Reisinger mit populistischen Ansätzen und fehlendem Reformwillen. Der nötigen Reparatur des Staatshaushaltes stünden keine adäquaten Reformen gegenüber. Man sei bereit gewesen zu Kompromissen, habe immer wieder Lösungsansätze geliefert, sei aber vor allem bei der SPÖ auf widersprüchliche Haltungen gestoßen. In den vergangenen Tagen, so Reisinger, habe sich der Eindruck erhärtet, »dass in zentralen Fragen leider keine weiteren Fortschritte erzielt wurden, sondern eigentlich auch Rückschritte gemacht wurden.« Es schmerze sie, so Reisinger, keine Fortschritte präsentieren zu können.

Die Ausgangslage ist auf mehreren Ebenen denkbar schwierig: Im Haushalt klafft ein gigantisches Loch. Die Rede ist von einem Einsparungsbedarf von 18 bis 24 Milliarden Euro. Die Wirtschaftslage ist bereits trist. Das haben spektakuläre Pleiten wie die des Motorradherstellers KTM zuletzt auch unterstrichen. Ebenso trist sind zugleich aber auch die wirtschaftlichen Aussichten. Das Hauptprobleme, so Ökonomen: Strukturelle Standortprobleme. Sprich: Es herrscht massiver Reformbedarf.

Düstere Wirtschaftsprognosen

Hinzu kommt auch noch, dass sowohl die prekäre Budgetlage als auch die düsteren Wirtschaftsprognosen erst wenige Tage nach der Wahl bekannt wurden. Im ÖVP-geführten Finanzministerium muss man von all dem allerdings seit geraumer Zeit gewusst haben. Stattdessen bemühte man aber die Beruhigungsleier.

Nach dem Ende der Koalitionsverhandlungen übten sich jedenfalls alle Lager wie auf Knopfdruck in gegenseitigen Schuldzuweisungen. Die ÖVP – in Person von Generalsekretär Christian Stocker – gab »rückwärts gewandten Kräften« in der SPÖ die Schuld am Scheitern. Die SPÖ äußerte dennoch die Hoffnung auf eine Zweierkoalition mit der ÖVP. Die FPÖ wiederum forderte den umgehenden Rücktritt von Nehammer.

Innerparteiliche Konflikte

Allerdings: Unruhe herrscht nicht nur zwischen den Parteien. Sie herrscht auch innerhalb der Parteien. Ungemach droht auch SPÖ-Chef Andreas Babler. Babler ist seit Übernahme der Partei angezählt und hatte es auch während der Koalitionsgespräche immer wieder mit lauter Opposition aus den eigenen Reihen zu tun. In der SPÖ gibt es zumindest zwei starke Lager, die gegen Babler arbeiten: ein pragmatisch-großkoalitionäres, das eine Zusammenarbeit mit der ÖVP befürwortet, wie auch eines, dass die klare Abgrenzung Bablers zur FPÖ strikt ablehnt.

Und jetzt? Ein Zeitlimit für die Regierungsbildung ist laut österreichischer Verfassung nicht vorgesehen. Tatsache ist aber: Dem akuten Handlungsbedarf steht ein komplettes Patt gegenüber. Aktuell ist die Gesetzgebung jedenfalls gelähmt. Der neue Nationalrat hat sich mit den Mehrheiten aus der Wahl im September konstituiert. Ein möglicher Ausweg wäre, dass sich ÖVP und SPÖ tatsächlich noch einigen. Allerdings: Eine solche Regierung hätte eine Mehrheit von gerade einmal einer Stimme im Nationalrat. Und: Klimatisch sieht es zwischen den beiden düster aus.

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