Rudel und Bande

Die Hamburger Deichtorhallen zeigen Fotografien aus der queeren Subkultur

  • Falk Schreiber
  • Lesedauer: 5 Min.
Nan Goldin, »Jimmy Paulette And Tabboo! In The Bathroom«, New York City, 1991
Nan Goldin, »Jimmy Paulette And Tabboo! In The Bathroom«, New York City, 1991

Skeptisch blickt der junge Mann an der Kamera vorbei: David Armstrong, 18 Jahre alt, androgynes Äußeres, mit halblangen Haaren, im Kleid, mit nachlässig zwischen zwei Fingern glimmender Zigarette, aufgenommen in grobkörnigem Schwarz-Weiß, das sich aufs Gesicht fokussiert und den Hintergrund in Unschärfe verschwimmen lässt. Eine schöne Fotografie, sympathiegetragen und gleichzeitig mit großem Gespür für den ästhetischen Wert der Bildkomposition – »David at Grove Street, Boston 1972«, aufgenommen von der damals ebenfalls gerade erst 19-jährigen Nan Goldin.

Eine schöne Fotografie, aber auch das Dokument einer künstlerischen Gemeinschaft zwischen Rudel und Bande. Goldin (Jahrgang 1953), Armstrong (Jahrgang 1954), Mark Morrisroe (Jahrgang 1959) und Philip-Lorca diCorcia (Jahrgang 1953) bewegten sich in den 70ern in der queeren Subkultur der US-Ostküste, erlebten den Niedergang des sozialen Zusammenhalts innerhalb der amerikanischen Gesellschaft, das Aufkommen der religiösen Rechten, die Drogenpandemie und schließlich die Aids-Krise. Und sie revolutionierten auf jeweils eigene Weise die Fotokunst: mit Bildern, die zwar dokumentarisch aussehen, dabei aber ganz eigene künstlerische Strategien verfolgen. Goldin geht zutiefst empathisch ran, Armstrong altmeisterlich, Morrisroe experimentell und diCorcia mit aufwendigen Inszenierungen, die an der Grenze zum Filmset konstruiert sind.

Der vor drei Jahren verstorbene Modefotograf F. C. Gundlach sammelte alle vier Künstler*innen, was einen interessanten Kontrapunkt zur Hochglanzästhetik setzt, für die Gundlach stand (und dessen eigenes Schaffen so noch einmal unter einem neuen Licht betrachtet werden kann). Die Hamburger Deichtorhallen zeigen diese Arbeiten in einer kleinen, etwas nichtssagend »High Noon« betitelten Schau, die als Kabinettsausstellung der Retrospektive »Blow up« des neorealistischen Schweizer Malers Franz Gertsch beigesellt ist. Übertriebene Ambition kann man Sabine Schnakenbergs Kuration dabei nicht vorwerfen: Zu sehen ist eine Sammlungspräsentation, brav gehängt, geordnet nach Motivgruppen und innerhalb dieser Ordnung nach Künstler*innen. Heißt: Wenn ein Selbstporträt Goldins in Lack und Leder namens »Nan as a Dominatrix, Cambridge, Massachusetts, 1977« zu sehen ist, dann hängt in unmittelbarer Nähe David Armstrongs »Andrew in Dog Collar, New York City, 1984«.

Originell ist das nicht, es ermöglicht allerdings einen genauen Blick auf Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen zwei Motiven aus dem BDSM-Kontext. Und wenn man dann beobachtet, wie nahe Armstrong dem porträtierten Andrew Utter kommt, während Goldin hinter das titelgebende Outfit einen ganzen Kosmos schichtet, ein Küchensetting, das weniger mit Sexualität zu tun hat als mit einem lustvollen Alltagsleben, prekär und luxuriös, bieder und glamourös zugleich, dann sagt das auch etwas aus über unterschiedliche künstlerische Herangehensweisen.

Solch eine Gleichzeitigkeit ästhetischer Strategien angesichts ähnlicher Sujets durchzieht die gesamte Ausstellung. Am deutlichsten wird das bei Goldins Beiträgen (die freilich auch gehörig überkommuniziert sind, gerade in Hamburg): Wenn hier von Sexualität gesprochen wird, dann spielen explizite Lust ebenso in die Darstellung hinein wie Spaß an Peinlichkeit und erschütternde Gewalt. Ein Bild wie »The Hug, New York City, 1980« zeigt einerseits eine innige Umarmung, andererseits aber auch einen behaarten, kräftigen Männerarm, der einen zarten Frauenkörper grob umfasst. Und man kann es der Ausstellung hoch anrechnen, dass die Geschlechterrollen nicht immer so klischeehaft ausgestellt werden wie hier.

Zumal immer auch ein abseitiger Humor zu spüren ist. Ein Bild wie Goldins Selbstporträt »Nan after being battered« (1984) zeigt noch schonungslos häusliche Gewalt, die Kaiserschnittnarbe »Ectopic Pregnancy Scar, New York City, 1980«, ist dann zwar ebenfalls ein gewalttätiger Eingriff in den Künstlerinnenkörper, der allerdings auch mit Lust und selbstbewusster Weiblichkeit kontrastiert ist, und das Splatterszenario »Bloody Bedroom in a squatted house, Berlin, 1984« beinhaltet tatsächlich echten Spaß am Grauen. Und wenn man das neben die Gewalt stellt, mit der Morrisroe in Bildern wie »Untitled (John S. and Jonathan)« (1985) dem Fotomaterial zusetzt, dann erkennt man auch, dass Humor hier eine Strategie ist, der Brutalität des Alltags gegenüberzutreten.

Was dabei ein wenig verloren geht, ist die politische Sprengkraft hinter diesen vier Künstler*innen. Dass die präsentierten Motive aus dem queeren Amerika nicht nur einen durchaus reizvollen Einblick in eine Subkultur bieten, sondern in den 80ern auch eine Anklage gegen den konservativen Backlash unter Ronald Reagan waren, ist nur in den brüchigen Alltagsinszenierungen diCorcias zu erahnen. Und dass diese einige Jahre später entstanden als die mit radikaler Authentizität spielenden Arbeiten Goldins, Morrisroes und Armstrongs, ignoriert »High Noon« ebenso geflissentlich. Wobei sich die Ausstellung so allerdings auch vom Druck freimacht, sich insbesondere zu Goldins politischem Aktivismus zu positionieren, der in den vergangenen Jahren immer unversöhnlicher wurde. Goldins Retrospektive »This Will Not End Well«, die noch bis April in der Neuen Nationalgalerie Berlin zu sehen ist, geriet in die Mühlen des Israel-Gaza-Konflikts, der die eigentlichen Qualitäten der Berliner Schau mittlerweile konsequent überlagert.

Sei es drum – »High Noon« jedenfalls endet mit Straßenansichten, die Armstrong in den Neunzigern fotografierte. Große Formate sind das, grobkörnige, menschenleere Stadtlandschaften, bei denen nur die Titel Hinweise geben, ob man sich gerade in Potsdam, New York oder New Haven befindet. Melancholisch ist das, urban, zeitenthoben, große Kunst wahrscheinlich. Aber auch ein bisschen enttäuschend, angesichts der queeren Subversion, mit der das Quartett Jahre zuvor die Kunst aufmischte. Als ob die Flucht in den Ästhetizismus der einzige Ausweg aus der immer krasseren Authentizitätsbehauptung der älteren Exponate wäre.

»High Noon. Nan Goldin, David Armstrong, Mark Morrisroe und Philip-Lorca diCorcia«, Werke aus der Sammlung Gundlach. Bis 4. Mai, Deichtorhallen/Halle für aktuelle Kunst, Hamburg.

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