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Wettbewerb der Unmenschlichkeit

Olivier David kritisiert den sich zuspitzenden Wahlkampf der bürgerlichen Parteien

Carsten Linnemann (l.), CDU-Generalsekretär, und sein Parteivorsitzender Friedrich Merz
Carsten Linnemann (l.), CDU-Generalsekretär, und sein Parteivorsitzender Friedrich Merz

Für Menschen mit Depressionshintergrund ist der Jahresanfang an sich schon eine Herausforderung. Überall Neujahrsvorsätze. Leute, die im Dezember noch auf allen Vieren gekrochen sind, haben eine Energie, als hätten sie sich zwischen den Jahren an eine Batterie angeschlossen. Und dann schaut man auf seinen eigenen schmächtigen Vorsatz: sich nicht gleich in den ersten Wochen des Jahres komplett zu verausgaben.

Als wäre das nicht alles schon genug, überschneiden sich zwei ungute Phänomene: Zu den Neujahrsvorsätzen kommt nun auch noch der Wahlkampf für die Bundestagswahl dazu. Die üblichen Verdächtigen feuern aus allen Rohren: Der Generalsekretär der CDU, Carsten Linnemann, will als Reaktion auf den Anschlag in Magdeburg ein Register für psychisch kranke Gewalttäter einführen. Sein Parteikollege, Kanzlerkandidat Friedrich Merz, fordert eine Arbeitspflicht für Erwerbslose, dazu will die Partei das Bürgergeld wieder abschaffen. Robert Habeck (Grüne) möchte in Zukunft 3,5 Prozent der Wirtschaftsleistung fürs Militär ausgeben. Weil das noch nicht genug Populismus ist, fordert er noch, dass alles Syrer*innen, die nicht arbeiten, zurück nach Syrien sollen. Sozialpolitik in den bürgerlichen Parteien: Fehlanzeige.

Dieses autoritäre Gerassel und der Angriff auf den Sozialstaat schwören uns auf die nächsten Jahre ein. Es wird zwischen guten, weil nützlichen Migrant*innen und denjenigen, die dem Staat angeblich auf der Tasche liegen, unterschieden. In diesem Weltbild sind arme und rassifizierte Menschen Verfügungsmasse. Ist das Boot zu voll, werden sie eben von Bord geworfen. Zudem werden – Stichwort Waffen für Israel – weiter geopolitische Interessen über das Völkerrecht gestellt.

Olivier David

Olivier David ist Autor und Journalist. 2022 erschien von ihm »Keine Aufstiegsgeschichte«, in dem er autobiografisch den Zusammenhang von Armut und psychischen Erkrankungen beschreibt. Bevor er mit 30 den Quereinstieg in den Journalismus schaffte, arbeitete er im Supermarkt und Lager, als Kellner und Schauspieler. 2024 erscheint sein Essayband »Von der namenlosen Menge« im Haymon Verlag. Für »nd« schreibt er in der 14-täglichen Kolumne »Klassentreffen« über die untere Klasse und ihre Gegner*innen. Alle Texte auf dasnd.de/klassentreffen. Zudem hostet er einen gleichnamigen Podcast über Klasse, Krise und Kultur. Alle Folgen auf dasnd.de/klasse.

Bei diesem Überbietungswettbewerb der Unmenschlichkeit kann man schon mal von Zynismus und Menschenhass überwältigt werden. Das ist verständlich, nutzt aber niemand etwas. Besser wäre ein Konzept der Selbstfürsorge, in der man sich darauf besinnt, was man selbst und die Leute im Umfeld eigentlich brauchen.

Das könnte ein Verständnis von Sicherheitspolitik sein, in der nicht nach immer mehr Polizei und höheren Strafen gerufen würde. Es wäre eine Politik, die ökonomische Sicherheit in den Vordergrund stellt, weil den Leuten unten diese Art von Sicherheit am meisten hilft. Bezahlbare Mieten, eine Gesundheitsversorgung, die ihren Namen verdient hat: kostenlos und niedrigschwellig. Jobsicherheit. Lebensmittelpreise, die bezahlbar sind.

Im nächsten Schritt müssen wir uns fragen, welche Medien diese Art der Berichterstattung in den Vordergrund stellen. Welche Politiker*innen an diesen Fragen arbeiten. Welche Initiativen sich für Marginalisierte einsetzen und dabei keine Kompromisse machen. Nicht weil unser aller Zusammenleben keine Kompromisse erforderlich macht, sondern weil Kompromisse meist eine Machtasymmetrie haben.

Zwischen Arm und Reich kann es keinen Kompromiss geben, der nicht zulasten der Armen geht. Mit Karl Marx gesprochen, müssen Linke daher aufhören, Palliativmittel anzuwenden, die das Übel nicht kurieren. Und das bedeutet, den Kampf gegen die Kapitalisten aufzunehmen.

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