Weihnachten in Berlin: Gewaltvolles Fest

Über Weihnachten erfahren Frauen in Familien und Partnerschaften mehr Gewalt, als an anderen Tagen

Hinter weihnachtlich geschmückten Fenstern erleben Frauen vermehrt häusliche Gewalt.
Hinter weihnachtlich geschmückten Fenstern erleben Frauen vermehrt häusliche Gewalt.

Weihnachten ist für viele Menschen kein besinnliches, schönes Zusammenkommen. Tagelang mit der Familie und der erweiterten Verwandtschaft verbringen zu müssen, ist oft anstrengend, stressig und beengend. Für Frauen und Mädchen, die von Gewalt innerhalb von Familien und Partnerschaften betroffen sind, sind diese Tage des Zusammen-sein-Müssens außerdem besonders gefährlich.

Das belegen nicht nur Zahlen aus Polizeistatistiken aus den Jahren bis 2023, sondern ganz aktuell auch die Erfahrung der Hotline gegen häusliche Gewalt der Berliner Initiative gegen Gewalt an Frauen (BIG) von Weihnachten 2024. »Es ist auffällig, dass in diesem Jahr schon über die Feiertage sehr viele Frauen bei uns angerufen haben«, sagt BIG-Sprecherin Nua Ursprung zu »nd«.

Die Anrufenden bei der Hotline brauchen Beratung im Umgang mit erlebter Gewalt, viele suchen nach Schutzplätzen in Frauenhäusern und Zufluchtswohnungen für sich und ihre Kinder. »Mit einer Frau haben wir direkt am 27. Dezember einen Gewaltschutzantrag gestellt«, sagt Ursprung.

Dass über Weihnachten mehr Frauen Gewalt in Familie und Partnerschaften erleben, ist auch für BIG nichts Neues. Das spiegelt sich seit Jahren in den Anrufzahlen von Hilfe suchenden Frauen wider. Allerdings habe es in den vorhergehenden Jahren stets erst im Nachgang der Familienzusammenkünfte das hohe Anrufaufkommen gegeben. »Über die Feiertage war es immer ruhig, Frauen haben erst danach angerufen, weil sie während des Anrufs ungestört sein wollen und das während der Feiertage oft nicht möglich ist«, sagt Ursprung.

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Die neue Entwicklung spreche einerseits für eine größere Bekanntheit der BIG-Hotline. »Wir waren im vergangenen Jahr viel in der Öffentlichkeit, seit Anfang Dezember läuft eine große Kampagne von uns«, sagt Ursprung. Andererseits könnten die hohen Anrufzahlen über die Feiertage auch für eine größere gesellschaftliche Entwicklung sprechen. »Es gibt inzwischen möglicherweise eine geringere Bereitschaft von Frauen, erlebte Gewalt erst einmal herunterzuschlucken und auszuhalten, sich über die Feiertage noch zusammenzureißen, und sich erst dann Hilfe zu suchen«, sagt Ursprung.

Dazu könne auch das bemerkenswerte Auftreten der Französin Giséle Pelicot beigetragen haben, die sich bewusst dafür entschieden hat, den Prozess gegen ihren Ex-Ehemann und 50 weitere Männer wegen jahrelanger Vergewaltigungen öffentlich zu führen, und damit vielen von Gewalt betroffenen Frauen Mut gemacht haben könnte, sich ebenfalls zur Wehr zu setzen. Der Prozess und die Urteilssprechung vor Weihnachten waren international mit großer Aufmerksamkeit verfolgt worden. Pelicot hatte gesagt, die Scham müsse die Seite wechseln. »Wir haben das Gefühl, dass sich Frauen immer weniger dafür schämen, Gewalt zu erfahren, und schneller dagegen vorgehen«, sagt Ursprung.

Trotz dieser positiven Entwicklung bleibt, dass zahlreiche Frauen häusliche Gewalt erleben, und das vermehrt, wenn Familien mehr Zeit miteinander verbringen. Das trifft gemäß der Erfahrungen der BIG-Hotline nicht nur auf Weihnachten zu, sondern auch in den Sommerferien und in der Zeit danach melden sich mehr von Gewalt betroffene Frauen, als zu anderen Zeiten. Gleichzeitig fehlt es in Berlin an Schutzplätzen in Frauenhäusern und Zufluchtswohnungen für Frauen und ihre Kinder. »Da hat sich nichts verändert, es ist immer alles voll«, sagt Ursprung. Es werde zwar gerade ein neues Frauenhaus gebaut, aber das dauere noch, und auch die dort neu geschaffenen Plätze reichten nicht aus, um den Bedarf zu decken.

Um zu verhindern, dass sich Gewalt gegen Frauen und Mädchen in Familien und Partnerschaften im Sommer und über Weihnachten häuft, brauche es keine kurzfristige Präventionsarbeit, sondern einen tiefergehenden gesellschaftlichen Wandel. »Da müssen Kinder schon in der Grundschule lernen, dass sie keine Besitzansprüche über andere Menschen haben können. Dass Gewalt auszuüben nicht in Ordnung ist und man sich Gewalt auch nicht gefallen lassen muss.« Präventionsarbeit müsse langfristig ausgerichtet sein.

So sieht es auch Ines Schmidt, frauenpolitische Sprecherin der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus. »Wir müssen Gewalt ächten in unseren Beziehungen«, sagt sie zu »nd«. Schon in Kitas und Schulen müsse geübt werden, wie in Beziehungen Konflikte gelöst werden können und welche Instrumente es dafür gibt. »Kinder müssen lernen, was man darf und was man auf keinen Fall darf.«

»Wir brauchen mehr bezahlbaren Wohnraum, damit sich Frauen trennen können.«

Ines Schmidt (Linke)
Frauenpolitische Sprecherin

Schmidt hat zusammen mit weiteren Linke-Abgeordneten durch eine parlamentarische Anfrage die Zahlen zu Gewalt gegen Frauen und Mädchen in Familien und Partnerschaften über Weihnachten anhand der Statsitik der Berliner Polizei für die Jahre 2019 bis 2023 erfagt. In jedem dieser Jahre sind von der Polizei mehr Gewalttaten in diesem Bereich über Weihnachten aufgenommen worden, als an anderen Tagen im Jahr. Innerhalb des Zeitraums von 2019 bis 2023 habe es keine signifikante Zu- oder Abnahme der Anzahl an Opfern über Weihnachten gegeben, der Höchstwert sei 2022 mit 200 Opfern erfasst worden – im Vergleichszeitraum im November waren es 168 Opfer.

»Gerade zu Weihnachten – einer Zeit, die mit emotionalen Erwartungen überfrachtet ist – steigt die Rate von Männern, die gegenüber ihren Partnerinnen und Familien gewalttätig werden, stark an«, sagt Ines Schmidt. Das liege unter anderem daran, dass Konflikte schneller entstehen und diesen schlechter aus dem Weg gegangen werden können, wenn Familien so viel Zeit miteinander verbringen. »So eskaliert die Gewalt«, sagt sie. Auch der Stress der Feiertage, räumliche Enge und Alkoholkonsum könnten dazu beitragen.

Neben langfristiger Präventionsarbeit brauche es auch bessere materielle Bedingungen, um Gewalt in Beziehungen zu vermeiden, sagt Schmidt. »Wer Angst vor Jobverlust hat, wer immer Sorge hat, seine Wohnung zu verlieren, ist anders gestresst und aggressiv als Menschen, die diese Sorge nicht teilen.« Gleichzeitig sei es für Frauen kaum möglich, eine Beziehung sicher zu beenden, wenn ihnen die finanziellen Mittel fehlen. »Wir brauchen mehr bezahlbaren Wohnraum, damit sich Frauen trennen können.« Vor allem in Berlin sei es unglaublich schwierig, eine neue Wohnung zu finden. »Man ist verdammt zum Zusammenwohnen.« Allgemein müssten Frauen finanziell unabhängig sein, um Männer zu verlassen.

Aussagekräftige Fallzahlen zu häuslicher Gewalt für Weihnachten 2024 kann die Polizei noch nicht bereitstellen, weil die entsprechende Aufarbeitung noch nicht stattgefunden habe, sagt eine Sprecherin »nd«. Damit könne frühestens in etwa drei Monaten gerechnet werden. Die Anrufzahlen bei der BIG-Hotline sowie die unverändert erhöhten Fallzahlen über Weihnachten aus den fünf Jahren zuvor lassen aber darauf schließen, dass auch während der kürzlich vergangenen Weihnachtstage Frauen vermehrt von Gewalt betroffen waren.

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