Zweiundzwanzig Zentimeter Zärtlichkeit

Wie aufregend: Räumungsverkauf im Großantiquariat. Ernüchterung: Das meiste sind Konsalik-Bücher

Ein bisschen wie die Goldgräberstimmung damals. So fühlt sich ein Ausverkauf im Antiquariat an.
Ein bisschen wie die Goldgräberstimmung damals. So fühlt sich ein Ausverkauf im Antiquariat an.

Lassen Sie mich ein paar Sätze zu einem der lange Zeit beliebtesten Romane der Deutschen verlieren: »Soll und Haben« von Gustav Freytag (1816–1895). Der 1855 erschienene, 900 Seiten dicke Schinken, der bis heute unter Germanisten als Klassiker des Realismus gilt, fehlte Anfang des 20. Jahrhunderts in kaum einem bürgerlichen Bücherschrank und war ein Best- und Dauerseller. Darin wird uns als strahlend gute Identifikationsfigur ein kreuzbraver, sittsamer, ehrenwerter Kaufmann vorgestellt, der umgeben ist von habgierigen, betrügerischen, verschlagenen Juden.

»Kein anderer deutschsprachiger Autor des 19. Jahrhunderts hat das Weltbild des deutschen Bürgertums so geprägt«, hieß es in der »Frankfurter Rundschau« anlässlich Freytags 200. Geburtstag. Die Romanfiguren des Schriftstellers seien »mit uniformierter Schlichtheit« ausgestattet, so die Zeitung weiter: »Seine Frauen sind blond, schön und dem Manne untertan. Dieser kämpft mutig, trinkt mäßig, hält seine Ehre hoch, verzichtet edel und besitzt – wenn er zu den Guten in Freytags Figurengalerie zählt – einen ausgezeichneten Charakter. Auf der Gegenseite agieren die dunkelhaarigen, verräterischen und schließlich unterliegenden Gestalten.«

Vor 30 Jahren konnte man auf einen Berliner Flohmarkt gehen und, wenn man die Wände seines WG-Zimmers mit Gustav Freytags Wälzern tapezieren wollte, eine Stunde später mit 30 gebundenen Ausgaben von »Soll und Haben« nach Hause kommen, für die man so viel ausgegeben hatte wie für zwei bis drei Biere in der Kneipe. Aus dem am häufigsten gelesenen war das am häufigsten bei Haushaltsauflösungen und Entrümpelungen aufzufindende Buch geworden, denn die Freytag-Leserinnen und -Leser starben im wahrsten Sinn des Wortes aus. Wenn Sie morgen einem halbwegs erfahrenen Antiquar eine Kiste voll »Soll und Haben«-Bände bringen, wird er Sie auslachen oder Ihnen vorschlagen, Pappmaché-Figuren daraus zu basteln.

Die gute Kolumne

Thomas Blum ist grundsätzlich nicht einverstanden mit der herrschenden sogenannten Realität. Vorerst wird er sie nicht ändern können, aber er kann sie zurechtweisen, sie ermahnen oder ihr, wenn es nötig wird, auch mal eins überziehen. Damit das Schlechte den Rückzug antritt. Wir sind mit seinem Kampf gegen die Realität solidarisch. Daher erscheint fortan montags an dieser Stelle »Die gute Kolumne«. Nur die beste Qualität für die besten Leser*innen! Die gesammelten Texte sind zu finden unter: dasnd.de/diegute

Ich bin mir nicht sicher, ob in einer besseren Zukunft diese Art des Buchrecyclings nicht auch auf die heutige »Spiegel«-Bestsellerware angewendet werden sollte. Sicher ist jedenfalls: Germanisten dürften (sofern an deutschen Universitäten heute noch etwas gelesen wird, das länger als eine Chat-Nachricht ist, was unwahrscheinlich ist) die Einzigen sein, die sich in unseren Tagen noch mit dem Roman »Soll und Haben« beschäftigen, in dem es von antisemitischen Stereotypen nur so wimmelt und der einst das hierzulande meistgelesene Buch war.

Nun habe ich mich neulich, weil ich erfuhr, dass ein großes Antiquariat einen Ausverkauf veranstaltet, dorthin auf den Weg gemacht, um das eine oder andere Schnäppchen zu ergattern. Angeblich, das zumindest wurde vollmundig behauptet, sollte es dort in rauen Mengen »superspannende Sachen« geben, darunter vieles, das »nirgendwo anders zu bekommen« sei. Auf meinem Hinweg sah ich die von mir gemachte Beute bereits vor meinem geistigen Auge: Schernikaus »Legende«! Oswald Wieners »Die Verbesserung von Mitteleuropa«! Vergriffene Peter-Hacks-Gedichtbände!

Als ich die Geschäftsräume betrat und heiter wirkende junge Menschen mit Sackkarren frohgemut Bücherkartontürme hin und her schieben sah, war ich noch guten Mutes. Es schienen mir weit über eine Million Bücher zu sein, die der Laden beherbergte. Da sollte ja wohl die eine oder andere gut erhaltene Jelinek-Erstausgabe aus den 70ern für mich dabei sein!

Doch je tiefer ich in der ehemaligen Fabrikhalle in die hintersten und dunkelsten Gänge (»Literatur A–D«, »Literatur E–H«, »Literatur I–M« usw.) vordrang, in denen die Beleuchtung bei jedem Schritt, den man tat, schwächer wurde und die mit riesigen, fünf Meter hohen und bis zum Bersten gefüllten Regalen zugestellt waren, desto mehr geriet ich ins Zweifeln. Fiel mein Blick da, beim beiläufigen Passieren des Buchstabens K, tatsächlich auf drei ganze Meter alte »Konsalik«-Schmöker?

Neugierig geworden trat ich etwas näher an das K-Regal. Und dann sah ich es: Es waren nicht nur drei Meter Konsalik, sondern drei ganze Regale voll: »Liebesnächte in der Taiga«, »Wie ein Hauch von Zauberblüten«, »Im Tal der bittersüßen Träume«, »Eine Urwaldgöttin darf nicht weinen«. So ging das immer weiter, Regalreihe für Regalreihe. Hunderte, vielleicht Tausende halb zerfallene Buchclub-Ausgaben aus den 50er bis 70er Jahren mit grellbuntem Kitsch-Umschlag.

Ich wurde stutzig: War das die Geschäftsidee dieses »Antiquariats«? Zerlesene Wehrmachtssoldatenliteratur und anderes unverkäufliches Altpapier, bei dessen Anblick jeder Antiquar eine Panikattacke bekommt, als »superspannende Sache« anzupreisen, die »nirgendwo anders zu bekommen« ist?

Ich wandte mich dem Buchstaben H zu. Und tatsächlich wurde meine Vermutung bestätigt: Ein Buchregal voller 70er-Jahre-Bestseller von Willi Heinrich (»Schmetterlinge weinen nicht«)! Das Muster setzte sich fort. D: Utta Danella! (»Tanz auf dem Regenbogen«), S: Johannes Mario Simmel! (»Zweiundzwanzig Zentimeter Zärtlichkeit«), B: C. C. Bergius! (»Blut und Blüten für Dschingis-Chan«). »Seichte Schmonzetten mit gewöhnungsbedürftigen Titeln« wäre eindeutig der treffendere Werbeslogan gewesen als »Günstige gebrauchte Gegenwartsliteratur«.

Mein Forschungsdrang ging jetzt ganz mit mir durch. Fand ich hier möglicherweise auch noch hausbackeneren, angestaubteren und vermuffteren, noch posemuckelhafteren, dumpfigeren Lesestoff als diesen? Ich marschierte stracks zu den Buchstaben G und F, wo ich nicht nur etliche prall gefüllte Regalbretter mit eben dem Vermuteten fand (Ludwig Ganghofer, Marie-Louise Fischer), sondern auch den vermutlich nach wie vor ungehobenen Schatz dieses Riesenantiquariats: zwei vom Fußboden bis an die Decke reichende Gestelle, ausschließlich bestückt mit Hunderten Ausgaben von Gustav Freytags »Soll und Haben«, schön vergilbt und gedruckt in altdeutscher Schrift, angeboten zum Erwerb.

Gekauft habe ich dann aber etwas anderes: Robert Gernhardt, »Gedichte 1954–1997«. Preis: 3 Euro.

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