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50 Jahre Mieter, jetzt Eigenbedarfskündigung
Stefan A. wohnt seit 50 Jahren in seiner Wohnung in Pankow – jetzt soll er raus
»Meine Frau würde am liebsten die ganze Zeit darüber reden. Ich versuche, möglichst wenig darüber nachzudenken«, sagt Stefan A. im Gespräch mit »nd«. Er und seine Frau Zeynep wohnen in einer Wohnung in der Raumerstraße in Pankow. Der 56-jährige A. lebt schon seit 50 Jahren in dem Altbau. Das könnte bald vorbei sein, denn die Eigentümer haben Eigenbedarf angemeldet. Am Dienstag verhandelte das Amtsgericht Mitte erstmals ihre Räumungsklage.
»So viel Publikum hatte ich noch nie«, sagt die Richterin. Als es losgeht, sind rund 20 solidarische Prozessbeobachter*innen in dem kleinen Saal. Die Mieter*innengewerkschaft und die Initiative Pankow gegen Verdrängung hatten auf den Prozess aufmerksam gemacht. Bei dem Gütetermin soll erörtert werden, ob die Streitparteien sich einigen können.
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Dazu kommt es aber nicht. Die Interessen seien einfach konträr, sagt die Anwältin der Eigentümer. Von diesen ist nur einer beim Termin, sein Partner fehlt entschuldigt. In der kurzen Diskussion geht es auch um ein Haus im brandenburgischen Eberswalde, das der Wohnungseigentümer sein Eigen nennt. Dort könne man aber nicht dauerhaft wohnen, sagt er, dafür seien die Wohnungen zu klein, nur etwas größer als eine Datsche. »Wir nutzen das im Sommer manchmal.« Er habe das denkmalgeschützte Gebäude gekauft und wiederhergerichtet.
Bezogen auf seine derzeitige Wohnsituation sagt er wiederholt, dass seine jetzige Mietwohnung keinen Balkon habe. Ihm sei durchaus bekannt, dass es Eigenbedarfskündigungen gebe, nach denen dann neue Mieter*innen in die Wohnungen ziehen würden. »Das sollte so nicht sein.« Und: »Wir möchten im Alter hier wohnen«, sagt er. Das Ziel sei, im Rentenalter keine Miete mehr zahlen zu müssen.
Nach der Verhandlung ist Stefan A. einerseits überrascht, wie schnell sie vorbei war, andererseits davon, wie schlecht es ihm damit geht. A. ist im Kiez und in der Wohnung mehr als verwurzelt. Selbst als seine Eltern als Auslandskorrespondent*innen in Indien waren, sei er in der Wohnung geblieben. Wenn er jetzt durch die Straßen laufe, denke er manchmal: Hier würde ich gerne wohnen. Aber dann werde ihm klar, sagt er, dass dort ja Menschen leben. »Ich kann ja nicht einfach jemanden aus seiner Wohnung schmeißen.«
Es gebe Fälle, in denen Eigentümer selber von Eigenbedarfskündigungen betroffen seien und dann wiederum ihren Mieter*innen kündigen würden, sagt Carola Handwerg, die Anwältin von Stefan A., zu »nd«. »Aber die Fälle, in denen Leute über eine ausreichend große Wohnung verfügen und dann so tun, als sei es zwingend notwendig, dass sie da einziehen, finde ich besonders dreist.« Sie weist darauf hin, dass es in diesem Fall einen Härteeinwand gibt. Stefan A. hat – von einem Facharzt attestiert – schwere gesundheitliche Probleme, die einen Umzug für ihn unmöglich machen.
Martha Schön von Pankow gegen Verdrängung, sagt nach dem Prozess zu »nd«, es gebe aktuell eine riesige Welle an Gerichtsverfahren wegen Eigenbedarfskündigungen: »Nicht nur in Pankow, in ganz Berlin.« In Pankow sei eine Zunahme vor allem bei Häusern, die aus der Sozialbindung gefallen sind, zu beobachten. Die Initiative will Betroffene weiter unterstützen. »Wir lassen niemanden allein«, so Schön.
Sie sei froh, wenn sich Leute wehren, sagt Julia Hölzen von der Ortsgruppe Pankow der Mieter*innengewerkschaft. »Viele Nachbar*innen verlassen heimlich still und leise seit Jahren den Bezirk, weil die Eigenbedarfskündigung eine existenzielle Bedrohungssituation ist, derer sich Menschen versuchen zu entziehen«, so Hölzen. Die Praxis von Eigenbedarfskündigungen müsse ein Ende haben.
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