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Von Müh und Not und von Hoffnung
Ein Franzose lädt ein, Victor Klemperer neu zu lesen
Vor mehr als einem halben Jahrhundert erschienen zwei Bücher des Dresdner Romanisten Victor Klemperer (1818–1960). Das erste trug den Titel »LTI« als Abkürzung für Lingua Tertii Imperii, also Sprache des Dritten Reiches. Es beschrieb die Vergewaltigung der deutschen Sprache durch die Nazi-Diktatur und wurde 1947 im Aufbau-Verlag veröffentlicht. Das zweite hieß »Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten«, Klemperers Tagebücher 1933 bis1945, und ist erst nach dem Fall der Berliner Mauer, 1995, ebenfalls im Aufbau-Verlag erschienen. Beide Bücher hinterließen tiefe und nachhaltige Spuren in der nationalen und internationalen Aufarbeitung der Hitler-Diktatur sowie in Spezialwissenschaften, die sich mit Sprache, Mentalitätsgeschichte, Psychologie usw. beschäftigen.
Klemperers Bücher legen Zeugnis ab von der fortschreitenden Verfolgung von Juden im NS-Regime, am eigenem Leib erfahrenen Demütigungen und sind vor allem – wie Martin Walser feststellte – genaue Beobachtungen dessen, was in den zwölf Jahren in der deutschen Gesellschaft geschah. Immer wieder werden diese beiden Bücher bis heute herangezogen, um Wesen und Wirkungen totalitärer Diktaturen generell zu analysieren. Der 1953 geborene französische Philosoph und Kunsthistoriker Georges Didi-Huberman von der Pariser École des Hautes Études en Sciences Sociales hat diese nunmehr erneut gelesen und für Nachgeborene erhellend aufbereitet.
Die »Zeugenschaft bis zum Letzten« enthält eine Fülle erschreckender und entsetzlicher »Entartungen« der deutschen Sprache in nahezu allen Bereichen der gleichgeschalteten Gesellschaft. Klemperer registrierte aber auch abweichende Haltungen und Sprache – er spricht von einer vox populi (Stimme des Volkes) –, die jedoch leider rar waren. So beschreibt er eine Begegnung am 19. Juli 1943 in Dresden: »Als ich am Sonntagnachmittag vom Friedhof kam, ging am Parkweg an der Lothringer Straße ein alter Herr über den Weg auf mich zu, reichte mir die Hand, sagte mit einer gewissen Feierlichkeit: ›Ich habe Ihren Stern gesehen und begrüße Sie, ich verurteile die Verfemung einer Rasse und viele andere tun das ebenso.‹ Ich: ›Sehr freundlich – aber Sie dürfen nicht mit mir reden, das kann mich das Leben kosten und Sie ins Gefängnis bringen.‹ – Ja, aber er habe mir das sagen wollen und müssen.«
Als Klemperer in ein sogenanntes Judenhaus umziehen muss, kann er seine Tagebuchblätter heimlich einer »arischen« Freundin zur Aufbewahrung zustecken. Am 11. November 1940 notiert er, er und seine Frau seien »tiefbedrückt von der Niedertracht und der Rechtlosigkeit«, die »in allem die Not jämmerlicher und erbärmlicher werden lässt«. Dem Schutz durch seine »arisch«-protestantische Frau verdankte Klemperer sein Überleben.
Didi-Huberman schreibt in Anlehnung an die von Immanuel Kants in seiner »Kritik der reinen Vernunft« formulierten drei berühmte Fragen: »Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was kann ich hoffen?« über Klemperers Hoffnung: »Es lässt sich nachvollziehen, dass die Hoffnung Klemperers auf seine eigene Gegenwart nur eine war, die sich mit Müh und Not aufrechterhalten ließ. Er schreibt von der tragischen Minimierung des Hoffnungsspielraums aufgrund der Not, in die man ihn als Juden brachte. Aber Klemperers Hoffnung drückte sich in dem aus, was sein Tagebuch zu einem großen Buch der Zeugenschaft werden ließ: in dem täglichen Anspruch, den Hoffnungsspielraum trotz allem durch hartnäckige Arbeit zu vergrößern – dieser Mühe, die Hoffnung schafft.«
Georges Didi-Huberman: Zeugenschaft bis zum Letzten. Victor Klemperer lesen. A. d. Franz. v. Petra Willim. Konstanz University Press, 123 S., geb., 22 €.
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