David Lynch: Was scheinen die Eulen?

Der Filmkünstler David Lynch ist tot

Gefangen im Warteraum: In »Twin Peaks« nimmt der Mann von einem anderen Ort (Michael J. Andersen) den Ermittler Dale Cooper (Kyle MacLachlan) in Empfang.
Gefangen im Warteraum: In »Twin Peaks« nimmt der Mann von einem anderen Ort (Michael J. Andersen) den Ermittler Dale Cooper (Kyle MacLachlan) in Empfang.

Nein, es ist natürlich kein Zufall, dass das Vokabular, das uns in den unzähligen Besprechungen seiner Filme, auch in den abschätzigen Bemerkungen zu seinen Werken und in den Lobeshymnen auf den Kinoschöpfer David Lynch selbst begegnet, so wirkt, als entstammte es einem Lehrbuch für Psychoanalyse. Das Unheimliche und das Unbewusste, Traum und Albtraum, der Blick der anderen, die Auflösung des Selbst in einer surrealen Welt und die Entgrenzung der eigenen Wahrnehmung – das sind die Motive, auf die wir in den Bilder- und Ideenwelten des David Lynch treffen.

Das Festhalten an diesen Motiven – aus denen ein eigener Kosmos entstanden ist, den der Publizist Georg Seeßlen einmal als »Lynchville« betitelt hat –, der Mut zum Verrätselten und die künstlerische Konsequenz haben Lynch, entgegen den Regeln der Wahrscheinlichkeiten, die in Hollywood fast immer in Kraft sind, zu einem der prägenden und bedeutendsten Regisseure der zweiten Hälfte des 20. und des beginnenden 21. Jahrhunderts werden lassen. Dabei hat dieser Filmemacher, dem man seine Herkunft aus dem Bereich der bildenden Kunst, von der er nie ganz lassen konnte, anmerkt, nur zwei Handvoll Spielfilme für das Kino als Regisseur (zumeist auch als Drehbuchautor, gelegentlich als Nebendarsteller) verantwortet, die zwischen 1977 und 2006 auf die Leinwand kamen.

Nachruf – David Lynch: Was scheinen die Eulen?

»Eraserhead« hieß Lynchs Debütlangfilm, der mitunter als Horrorfilm denunziert wurde, der sich aber wie jedes von dessen Werken Genregrenzen und Stilzuschreibungen souverän entzieht. Jack Nance, bekannt geworden durch die kontinuierliche Zusammenarbeit mit Lynch, gab die Hauptfigur Henry Spencer, der sein missgebildetes Kind nur gezwungenermaßen in Obhut nimmt. Die albtraumhafte Realität weicht nur den albtraumhaften Fantasien des Protagonisten: Deformierte Körper zeigen sich, exzessive Gewalt bricht aus, ein Kopf rollt – wortwörtlich.

Es folgten »Der Elefantenmensch« mit Anthony Hopkins, die Literaturverfilmung »Dune – Der Wüstenplanet« und »Blue Velvet« voll gewaltsamer Sexualität, dann – anrührend schön – »Wild at Heart«, der kaleidoskopartige »Lost Highway«, »Eine wahre Geschichte« voll unerwarteter Abgründe und die melancholisch-düstere Traumreise »Mulholland Drive«. »Inland Empire« – zwischen Gewalterfahrung und Wiederholungszwang – war Lynchs letzter Kinofilm vor knapp zwanzig Jahren. Ein jeder davon genießt heute Kultstatus.

Und der zehnte seiner Filme? »Twins Peaks – Fire Walk with Me« von 1992 ist die Vorgeschichte und eigentlich nur das kinematografische Beiwerk zu der gleichnamigen Serie, die ohne Übertreibung den Status eines Jahrhundertwerks einnimmt. Lynch ist mit dieser Arbeit gelungen, was viele Serienproduktionen für sich beanspruchen, aber nicht einlösen können: Er hat die Komplexität der Handlung, den Erfindungsreichtum und die Lust am Formexperiment von anspruchsvollen Romanen in ein fernsehtaugliches Format übersetzt. David Lynch ist der Epiker unter den Televisionären.

nd.DieWoche – unser wöchentlicher Newsletter

Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.

1990 kam die Pilotfolge zunächst ins US-amerikanische Fernsehen. Was sich in den nächsten beiden Jahren und über zwei Staffeln entspann, war das Panorama einer traumatisierten Kleinstadt. Ein Mord war geschehen – und nun zeigten sich, gespickt mit allerhand Skurrilitäten und mystischen Elementen, Risse in einer glanzvollen Oberfläche. 25 Jahre später machte Lynch da weiter, wo er aufgehört hatte und produzierte eine dritte Staffel seiner Serie, die das Unheimliche in einer heimeligen Gemeinschaft offenlegt. »Die Eulen sind nicht, was sie scheinen«, heißt es an einer Stelle. Nein, hier ist fast nichts, wie es scheint. Die Grenzen zum Fantastischen sind weit überschritten. Aber im Alltäglichen, in der Gesellschaft, in uns selbst ist gleichsam wenig so, wie es scheint. Kaum einer wusste das exemplarisch so in Bewegtbilder zu bannen wie David Lynch.

Gegen die Psychoanalyse wurde nicht selten der Vorwurf erhoben, es handele sich dabei lediglich um bürgerliche Selbstbespiegelung, letztlich um eine gänzlich unpolitische Einrichtung. Auch David Lynch hat es seinen Kritikern leicht gemacht. Ist sein Werk nicht Zeugnis eines ungehemmten Ästhetizismus? Ist sein obsessives Interesse für das Innenleben der Menschen, für die Abgründe im Menschen nicht eine Ausflucht, sich filmisch nicht mit den Verhältnissen, unter denen diese leben müssen, auseinanderzusetzen? Und steht hinter all dem Staunen, das seine Filme auslösen, nicht das Manko, dass vieles von den lynchesken Bilderfluten unverständlich bleiben muss und somit schrecklich-schönes Dekor wird? Hinzu kommt sein eigentümliches Engagement für die so bezeichnete transzendentale Meditation und die esoterische wie finanzhungrige Sekte, die dahintersteht.

Aber, frei nach Heiner Müller: Der Film ist klüger als jede Kamera und auch als jeder, der den Platz dahinter einnimmt. Lynchs Filme sind die grausamen, ungeschönten Gegenbilder zu den unaufhörlichen Fortschrittsversprechen einer satten Gesellschaft, seine Albträume sind der passende Kontrast zum amerikanischen Traum, der eine Illusion anderer Art ist. In seinen grotesken Figuren offenbart sich entgegen der Rätselhaftigkeit und Verschlossenheit von Lynchs Gesamtwerk ein tieferer Eindruck von den Erniedrigten und Beleidigten der Gegenwart, als im Pseudorealismus des Mainstream-Hollywood-Kinos je zutage tritt.

Nach schwerer Krankheit ist der Künstler David Lynch am Mittwoch, kurz vor seinem 79. Geburtstag, gestorben.

- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.