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Antisemitismus – Sozialismus des dummen Kerls? Zum Wiederaufleben einer alten Denkfigur
Der Antisemitismus ist der Sozialismus des dummen Kerls» – diese Wortschöpfung wird irrtümlicherweise August Bebel zugeschrieben. Er selbst führte jedoch in einem Interview 1894 den Ausspruch auf den österreichischen demokratischen Parlamentarier Ferdinand Kronawetter zurück. Später schrieb der Kommunist Otto Heller den Satz dem Sozialdemokraten Engelbert Pernerstorfer zu. Heller hoffte noch Ende 1932 auf die Lösung der jüdischen Frage durch den Sozialismus. Nur Wochen vor Hitlers Machtantritt schrieb er: «Eine wirkliche Judenfrage besteht heute nur in Ost- und Südeuropa, in den Gebieten rückständiger gesellschaftlicher Entwicklung.» Im März 1945 wurde Heller von den deutschen Judenschlächtern ermordet. Sein Freund Bruno Frei schrieb über dessen Prognose: «Selten ist eine historische Fehleinschätzung so tragisch widerlegt worden.»
Das Eintreten für eine vollständige Emanzipation der Juden wurde trotz mancher Widersprüchlichkeiten seit der Aufklärung im 18. Jahrhundert ein Bestandteil des Kampfes um eine gerechtere Welt. Somit war auch der Anspruch der Arbeiterbewegung, eine klassenlose Gesellschaft zu errichten, mit dem Ringen um Gleichberechtigung aller ethnisch-kulturellen Gruppen verbunden. Es war kein Zufall, dass zu den Pionieren der entstehenden sozialistischen Arbeiterbewegung Persönlichkeiten gehörten, die dem Judentum entstammten. Verstanden die Judenfeinde unter dem Wort der «Judenfrage» ihre meist gewaltsame «Lösung» durch Ausgrenzung, Vertreibung und Vernichtung, sah der humane Teil der Menschheit, darunter die Arbeiterbewegung, darin die Integration der Juden als gleichberechtigte Mitglieder der Gesellschaft, wobei über die Wege der Integration durchaus gestritten wurde.
Ein Blick in die Vergangenheit zeigt jedoch, dass die Haltung zum Antisemitismus unter Linken immer ein widersprüchliches Feld war. Nach anfänglicher Ignoranz oder ostentativer Abwehr, so durch Karl Marx, befasste sich die Arbeiterbewegung seit etwa 1880 mit dem Antisemitismus. Der Schriftsteller Wilhelm Marr hatte den Begriff soeben «hoffähig» gemacht.
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Schon früh zeichneten sich zwei Tendenzen ab: Einerseits bekämpfte die internationale Arbeiterbewegung den Antisemitismus, andererseits unterschätzte sie ihn. Dabei musste sich schon die frühe Arbeiterbewegung mit antisemitischen Vorurteilen in ihren eigenen Reihen auseinandersetzen, besonders im französischen Frühsozialismus. Agrarromantik und Großstadtfeindschaft sowie die Gleichsetzung der Juden mit Kapitalisten und Nutznießern der Industrialisierung – all dies wuchs zu einer spezifisch französischen Spielart des Antisemitismus von links zusammen. Erst die Auseinandersetzungen in der Affäre Dreyfus sollten den längst fälligen Bruch zwischen revolutionärer Linker und Antisemitismus in Frankreich mit sich bringen.
Der Dreyfus-Prozess beantwortete die Frage, auf welcher Seite der Antisemitismus zu finden war: Judenfeindschaft, Chauvinismus und Antirepublikanismus wuchsen zueinander ergänzenden Komponenten einer fortschrittsfeindlichen Kampagne zusammen, die letztlich auch die legale Tätigkeit der Arbeiterbewegung bedrohte. Insbesondere der französische Sozialist Jean Jaurès betonte, dass der Dreyfus-Prozess ein Probelauf der Reaktionäre auf dem Weg zur Beseitigung der Republik und des Rechtsstaates sei.
Im Herrschaftsbereich des zaristischen Russland verhinderte eine rigide antisemitische Gesetzgebung und die daran geknüpfte Alltagspraxis eine Integration der dort in einigen Regionen sehr stark vertretenen jüdischen Bevölkerung. Logisch bedingte die jüdische Forderung nach Emanzipation dort ihre Befreiung als Volk mit weitgehend nationalen und kulturell spezifischen Merkmalen. Da die Juden aber kein eigenes Territorium besaßen, war ein Teil des Strebens nach Emanzipation mit der Forderung nach einem solchen Territorium verbunden, was den Aufstieg des Zionismus ermöglichte. Doch suchte ein anderer Teil die Emanzipation innerhalb der Mehrheitsgesellschaft bei Beibehaltung jüdischer national-kultureller Autonomie zu verwirklichen. Nur eine Minderheit der osteuropäischen Sozialisten, zu ihnen gehörten Rosa Luxemburg und lange auch Leo Trotzki, übernahm das Emanzipations- und Assimilations-Paradigma des westlichen Sozialismus.
Der entscheidende Unterschied zu West- und Mitteleuropa war, dass das Zarenregime im ausgehenden 19. Jahrhundert den Antisemitismus systematisch als Herrschaftsmittel einsetzte. Dabei waren antijüdische Vorurteile im russischen Volk und seiner Intelligenz derart weitverbreitet, dass auch Kontakte innerhalb der revolutionären Bewegung sich zunächst schwierig gestalteten. Die Geheimorganisation Narodnaja Wolja (Volkswille), der übrigens auch Juden angehörten, begrüßte sogar die 1881/82 vom Zarismus inszenierten Pogrome. Sie war von der Idee geleitet, mit ihnen werde eine Bewegung der Empörung einsetzen, die sich letztlich gegen die bestehende Ordnung richte.
Der wichtigste Grund für die Entstehung einer eigenständigen jüdischen Arbeiterbewegung im Zarenreich war somit die erzwungene, nicht kurzfristig behebbare kulturelle und vor allem auch sprachliche Isolierung des jüdischen vom nichtjüdischen Proletariat. Davon ausgehend, gelangten noch vor 1890 immer mehr jüdische revolutionäre Intellektuelle zu der Erkenntnis, dass eine spezielle Organisation unter den jüdischen Arbeitern wirksam werden müsse. Unter diesen Intellektuellen befanden sich bereits die späteren führenden Köpfe des 1897 gegründeten Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbundes von Russland, Polen und Litauen, kurz Bund genannt. Er bildete eine Keimzelle für die ein Jahr darauf entstandene Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands, die SDAPR.
Für die Bolschewiki wie auch für die Menschewiki (Sozialdemokraten) stand die Bekämpfung des Antisemitismus außer Frage. Lenin bestand dabei darauf, dass der Erfolg dieses Kampfes entscheidend von der Existenz einer organisatorisch einheitlichen, straff geführten Partei abhänge, da anders die Festung der zaristischen Selbstherrschaft nicht eingenommen werden könne. Er wies die Ansprüche des Jüdischen Arbeiterbundes auf eine eigenständige Organisation innerhalb der russischen Sozialdemokratie zurück.
Doch ab 1917, nach dem Sieg der Oktoberrevolution, sahen Lenin wie auch Trotzki die Dinge differenzierter. Ihnen galten nun die kompakt lebenden, zumeist Jiddisch sprechenden Juden Osteuropas als Nation bzw. Nationalität, deren Streben nach national-kultureller Autonomie sich aber der zweckgerichteten Einheit der Arbeiterbewegung unterzuordnen habe. Letztlich würde sich die «jüdische Frage», wie alle anderen nationalen Fragen, im Rahmen der sozialistischen Revolution lösen. Die Bolschewiki lehnten daher sowohl den Zionismus ab als auch national-jüdische Autonomiebestrebungen innerhalb der Diaspora, wie sie der Jüdische Arbeiterbund vertrat. Dagegen förderten sie zunächst die jiddische Kultur.
In der deutschen Weimarer Republik bekämpften die Linken, trotz einiger Entgleisungen in KPD und SPD, den Antisemitismus der aufkommenden Nazi-Bewegung, wenngleich sie oft dessen Dynamik unterschätzten. Die Hitlerfaschisten mussten erst die organisierte Arbeiterbewegung zerschlagen, bevor sie ans «Werk» der Entrechtung, Vertreibung und schließlich Ausrottung der Juden gehen konnten.
Neue Fragen nach Auschwitz
Mit dem auch für die Arbeiterbewegung unvorhersehbaren und unvorstellbaren historischen Vorgang der fabrikmäßig organisierten Vernichtung der Juden während des Nationalsozialismus erfuhr der Zionismus eine furchtbare Rechtfertigung. Der ungeheure Zivilisationsbruch von Auschwitz machte die Gründung einer eigenen Heimstätte für das jüdische Volk zu einem unabdingbaren Erfordernis, und dies unabhängig davon, ob sich die Mehrheit der somit Geretteten als Zionisten verstand oder nicht. Im Mai 1948 wurde der Staat Israel gegründet, der sofort von arabischen Armeen angegriffen wurde. Die deutsche und internationale Linke stand damals aufseiten Israels.
In Deutschland wurde nach der Zerschlagung des Nazi-Faschismus der Antifaschismus kurze Zeit der zentrale Bezugspunkt nicht nur der deutschen Arbeiterbewegung, sondern auch bürgerlicher Kräfte. Doch begann der Umgang mit dem Erbe des Antifaschismus entlang der Frontlinien des aufkommenden Kalten Krieges zu zerfallen. Antifaschismus und Demokratie brachen auseinander. Vereinfacht gesagt: In Westdeutschland entstand eine bürgerliche Demokratie, doch ohne ausreichende Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Der stattdessen aufkommende Begriff des Antitotalitarismus erlaubte früheren Anhängern des Nazi-Regimes, allzu eilfertig die Gesinnung zu wechseln, war doch der einstige Hass auf den «Bolschewismus» in demokratischem Vokabular nunmehr wieder gefragt – wenn auch unter der geforderten Ausklammerung antisemitischer Sprache.
Nur die SPD trat von Anfang an für möglichst enge Beziehungen zu Israel ein – gegen teilweise starke Widerstände der bürgerlichen Parteien mit ihren zahlreichen Ex-Nazis und NS-Funktionsträgern in wiederum hohen Positionen. Wenn SPD-Autoren (oder in ihrem Umfeld aktive Theologen wie Helmut Gollwitzer) über das Verhältnis der Linken zu Israel schrieben, betonten sie, die Zionismus-Analysen der Vorkriegszeit seien obsolet geworden. Die moralische Hypothek verbiete ohnehin fast jede deutsche Kritik an Israel. Es waren jedenfalls ganz vorrangig SPD- und DGB-Politiker, die für erste kulturelle Kontakte zum jüdischen Staat sorgten.
Das teilweise idealisierte Israel-Bild blieb von der Beteiligung des jüdischen Staates an der britisch-französischen Suez-Aggression 1956 noch unbeeinflusst, brach aber nach dem Sechstagekrieg vom Juni 1967 zusammen. Einerseits ergriffen insbesondere jüdische Emigranten und Überlebende der nazistischen Todeslager vehement Partei für Israel. Sie fanden Unterstützung bei den Spitzen von SPD und DGB wie in den Kirchen. Andererseits ging der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS), ohnehin durch den Mord am Studenten Benno Ohnesorg tief aufgewühlt, auf Distanz zur Politik Israels und zu deren Verteidigern in der Bundesrepublik. Dabei geriet aber die emotionale Solidarität studentischer Linker mit den palästinensischen Opfern des Junikrieges oft zu einer naiven Schwärmerei für den «antiimperialistischen Befreiungskampf» und die «palästinensische Revolution», in der die Palästinenser nur noch als ein abstraktes Subjekt der Geschichte gesehen wurden, nicht mehr als eine Gesellschaft mit Klassen und ihren Widersprüchen.
Dementsprechend galt Israel als imperialistische Macht, und nur jene Israelis wurden als Verbündete gesehen, die sich gegen den jüdischen Staat wandten und einem abstrakten demokratischen Einheitsstaat in Palästina den Vorzug gaben – in dem die Juden auf den Status einer nationalen Minderheit reduziert sein würden. Im Falle einiger maoistischer Gruppen, nicht aber der DKP, erwuchs aus diesem Weltbild die Befürwortung antijüdischer Gewaltakte in der Bundesrepublik und Westberlin.
Die israelkritischen Positionen der Neuen Linken verdichteten sich oft ganz allgemein zu einer antizionistischen Ideologie. Ein abstrakter Faschismusbegriff und ein oft ungenügendes historisches Detailwissen ließen manchen Linken die Einzigartigkeit der nazistischen Judenvernichtung verkennen. Selbst der feige Terroranschlag auf die israelischen Sportler während der Olympischen Spiele in München 1972 stoppte diese fatale Entwicklung nicht. Israel erschien zunehmend als ein militärischer Goliath, der wehrlose Palästinenser mit Brachialgewalt um ihre Lebensrechte brachte.
Dabei zeigte die fortwährende affektgeladene Aufrechnung nazistischer Verbrechen mit israelischen Untaten ein weiter ungelöstes Problem unter Linken wie auch Nichtlinken, das auch mit ihren schwierigen Positionen gegenüber der deutschen Geschichte zu erklären war. Dieses Problem durchzog und durchzieht zum Teil noch immer die Geschichte der radikalen Linken in Deutschland.
Die DDR sah sich einerseits nicht in der Verantwortung für die Verbrechen des Hitlerregimes, sondern erklärte, im Gegensatz zu Westdeutschland den gesellschaftlichen Zustand, der die Nazi-Diktatur erst ermöglicht hatte, überwunden zu haben. Andererseits war die DDR auch im Verhältnis zu Israel von der Sowjetunion abhängig. Die SED hatte die Gründung des jüdischen Staates begrüßt, folgte jedoch ab 1949 der sowjetischen Linie in ihrer Feindschaft zum jüdischen Staat. Wie die Tschechoslowakei mit dem Slánský-Prozess sollte auch die DDR durch Entlarvung sogenannter Parteifeinde ihre Unterordnung unter Moskau zeigen.
Zuerst ins Fadenkreuz geratene jüdische Kandidaten für einen von den Drahtziehern im NKWD, dem sowjetischen Geheimdienst, geplanten Prozess wie Alexander Abusch oder Gerhart Eisler schieden jedoch auf Bedenken in der SED aus. Sieben Jahre nach Auschwitz wurde der Nichtjude und «Prozionist» Paul Merker, der sich besonders engagiert für eine «Wiedergutmachung» der deutschen Verbrechen an den Juden eingesetzt hatte, im Dezember 1952 zum Opferlamm. Dessen Forderung nach Entschädigung für im Ausland lebende Juden wurde parteioffiziell mit dem Nazi-Terminus der «Verschiebung von deutschem Volksvermögen» gebrandmarkt. Auch Stalins Tod am 5. März 1953 verhinderte nicht Merkers Verurteilung und Inhaftierung – doch nunmehr nicht in einem Schau-, sondern in einem Geheimprozess. 1956 wurde er aus der Haft entlassen, nur halbherzig rehabilitiert. Jüdinnen und Juden verließen die DDR, darunter sechs von sieben jüdischen Gemeindevorstehern.
Merkers Schicksal blieb lange ein Tabu, die Aufarbeitung der eigenen Geschichte beeinflusste dies nachhaltig und negativ. Es war nicht das einzige Problem der DDR. Friedhofsschändungen, Beschimpfungen und Verfolgungen hatten ihre Wurzeln angeblich nur in der Vergangenheit oder beim «Klassengegner» im Westen – nicht in den Verhältnissen in der DDR.
Aufgrund des diplomatischen Boykotts durch die engstirnige Hallstein-Doktrin der Bundesrepublik hatte die DDR ein Eigeninteresse an guten Beziehungen zu Israels Feinden in der arabischen Welt. Ägypten und Syrien versprachen die Durchbrechung der diplomatischen Isolation. In der Tat nahm die DDR zu einer Reihe arabischer Staaten – erstmals außerhalb des Sowjetblocks – diplomatische Beziehungen auf, nachdem die Bundesrepublik und Israel 1965 den Austausch von Botschaftern vereinbart hatten. Im November 1975 unterstützte die DDR die UN-Resolution 3379, die den Zionismus als eine Form des Rassismus brandmarkte. Doch stellte sie die Legitimität des Staates Israel nie infrage.
Das Verhältnis zwischen Israel und der DDR blieb dennoch bis 1989/90 ein Nichtverhältnis, wenngleich das Bemühen der DDR-Partei- und Staatsführung um internationale und nicht zuletzt um die Anerkennung der USA in den späten Jahren ihrer Existenz auf vorsichtige Annäherung an Israel hinauslief. In der DDR-Gesellschaft erwachte in diesen Jahren ein neues Interesse an jüdischer Existenz und jüdischer Kultur. In den Kirchen, teils auch in den Medien und der Wissenschaft entstand ein differenzierender Diskurs, der sich von der offiziellen DDR-Position unterschied. Erst am 12. April 1990 verabschiedete die Volkskammer der DDR einstimmig eine Erklärung, in der sie die Juden der Welt um «Verzeihung [bat] für Heuchelei und Feindseligkeit der offiziellen DDR-Politik gegenüber dem Staat Israel und für die Verfolgung und Entwürdigung jüdischer Mitbürger auch nach 1945».
Wie hält es die Linke?
Der größte Teil der Juden in Ost- und Ostmitteleuropa zog es vor, nach Israel, in die USA oder auch nach Deutschland auszuwandern. Gerade in Israel war und ist jedoch aufgrund der militärischen Konflikte die physische Existenz von Juden tragischerweise mehr bedroht als an fast jedem anderen Platz der Welt. Dies zeigte der sadistische Angriff der Hamas auf friedliche Zivilisten in Israel, der am 7. Oktober 2023 über 1400 Menschen das Leben kostete. Er war der größte Massenmord an Juden nach dem Holocaust.
Auf eindringliche Weise forderten in einer ersten Reaktion über 90 israelische Linksintellektuelle internationale Solidarität in einem Aufruf ein, der am 12. Oktober in der Zeitung «Haaretz» erschien. Die Unterzeichner, von denen der Schriftsteller David Grossman, die Soziologin Eva Illouz und der Historiker Yuval Harari international am bekanntesten sind, schrieben, sie benötigten «mehr denn je die Unterstützung und Solidarität der globalen Linken in Form eines unmissverständlichen Aufrufs gegen willkürliche Gewalt».
Der Aufruf zeigt eine tiefe Enttäuschung über die «unzureichende Reaktion» amerikanischer und europäischer Linksliberaler und Sozialisten angesichts des von der Hamas an israelischen Zivilisten verübten Massakers. Diese «Linken» würden auf die falsche Seite der Geschichte geraten, sollten sie den Terror der Hamas als Teil eines kollektiven Widerstandes gegen den kapitalistischen Feind preisen. «Doch zu unserer Bestürzung», heißt es, «haben einige Personen innerhalb der globalen Linken, die bisher unsere politischen Partner waren, mit Gleichgültigkeit auf diese schrecklichen Ereignisse reagiert und manchmal sogar die Aktionen der Hamas gerechtfertigt.» Es gebe einige unter ihnen, «für die der dunkelste Tag in der Geschichte unserer Gesellschaft ein Grund zum Feiern war».
Diese Erklärung sollten linke Deutsche zum Maßstab ihres Handelns nehmen. Dies nicht zu tun, würde sie um jeden politischen und moralischen Kredit bringen – nicht nur unter Israelis und Juden, sondern auch unter solchen Palästinensern, deren Stimme noch immer von der menschenfeindlichen Hamas erstickt wird.
Seit die israelische Armee, zuerst zögernd, dann aber massiv, zurückschlug, steigt die Zahl der Stimmen, vor allem in England, den USA, Spanien und Frankreich, die Israels Vorgehen in Gaza als Völkermord bezeichnen und den schon in der Gründungscharta der Hamas im Artikel 7 festgelegten Aufruf zum Genozid an den Juden kleinreden. Eine «zweite Nakba», eine Vertreibung der Palästinenser, wird beschworen; die der Nakba vorangehende «jüdische Nakba», die Massenvertreibung der Juden aus arabischen Ländern, wird verschwiegen. Die Folgen zeigen sich auch in Deutschland bei propalästinensischen Demonstrationen. Die Hamas wird als antikoloniale Befreiungsbewegung, Israel als koloniales Projekt des Westens bezeichnet
Wie geht es weiter? Ist eine Zweistaatenlösung als mittelfristiger Ausweg aus der Krise noch denkbar, mit Gaza unter internationaler Verwaltung? Denn alle Pläne des Zusammenlebens von Israelis und Palästinensern in einem Staat sind passé. Sogar die verbesserten Beziehungen Israels zu Marokko, Saudi-Arabien und den Golfstaaten konnten die Konfliktherde nicht eindämmen: Gerade diese Fortschritte motivierten die Hamas zum Losschlagen.
Israel hat die Hamas weitgehend zerschlagen. Besteht nun auf mittlere Sicht die bescheidene Hoffnung auf ein Israel unter einer gemäßigt rechten Regierung, die den Ausbau der jüdischen Siedlungen im Westjordanland stoppt? Die israelische Linke ist wohl für lange Zeit chancenlos zur politischen Gestaltung. Was bedeutet all dies für die Palästinenser? Denn eine Linke muss auch an die Opfer von Gaza denken und nunmehr entschieden für den Stopp der israelischen Militäraktion eintreten. Dies ist eine, wenngleich nicht die einzige Voraussetzung, damit die Palästinenser sich überhaupt dereinst vom mörderischen Islamismus und dessen iranischen Drahtziehern befreien können. Der Sturz des Teheraner Regimes wäre zweifelsfrei der Schlüssel für eine bessere Zukunft aller Menschen im Nahen Osten. Denn auch die Palästinenser brauchen diese Hoffnung.
Die Hamas hat den militärischen Kampf vorerst verloren, doch den Krieg der Bilder gewonnen. Die Kriegführung des israelischen Militärs lässt nicht wenige allzu leicht vergessen, dass sie die Reaktion auf einen brutalen Überfall ist. So haben viele Linke zu einer «Israel-Kritik» gefunden oder zurückgefunden, hinter der sich nichts anderes verbirgt als ein antiimperialistisch maskierter Antisemitismus, als ein Sozialismus des dummen Kerls. Sind große Teile der internationalen Linken damit zum Judenhass ihrer Vorgänger des 19. Jahrhunderts zurückgekehrt? Oder stehen Linke auch weiterhin für Menschenrechte, für Universalismus und Internationalismus?
In den USA haben sich Teile von Black Lives Matter und der Democratic Socialists of America aus falsch verstandener – statt der notwendigen – Palästina-Solidarität in den Fallstricken eines Pseudo-Antikolonialismus verfangen und sind in den Antisemitismus abgeglitten. Die zentrale Ursache dafür ist, dass diese Linke – oder Pseudolinke – in den Palästinensern undifferenziert ein Subjekt antikolonialer Befreiung sieht, was mit der weltweiten linken Abwendung der Klassenpolitik und ihrem Scheinersatz durch Identitätspolitik zu tun hat. Die eigene Unfähigkeit politischen Handelns wird auf die Palästinenser übertragen.
Prof. Mario Keßler, Mitglied der Leibniz Sozietät, forscht und publiziert zu jüdische Geschichte und Schicksale; am Donnerstag, den 30. Januar erinnert er in der Hellen Panke in Berlin mit Achim Engelberg an «Isaac Deutscher – der nichtjüdische Jude» (19 Uhr, Kopenhagener Str. 9, Prenzlauer Berg).
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