- Berlin
- Gökhan Akgün von der GEW Berlin
Bildung: Es geht nicht um Herkunft, es geht um die soziale Frage
Der neue Vorsitzende der GEW Berlin, Gökhan Akgün über Zukunftspläne, Bildung in der Hauptstadt und die Zusammenarbeit mit Verdi
Anfang November letzten Jahres haben Sie den Vorsitz der GEW Berlin übernommen. Was sind Ihre Ambitionen und Pläne?
Ich freue mich, dass ich mit einem sehr guten Ergebnis gewählt wurde. Das bringt ungeheure Verantwortung mit sich. Wir sind eine basisdemokratische Gewerkschaft, die Kolleg*innen erwarten, dass ich die ihnen gesetzten Themen voranbringe. Ich denke, dass wir dafür auch neue Wege gehen müssen, um unsere Kämpfe zu führen. Momentan reagieren wir nur auf Kürzungen, auf Missstände. Wir müssen einen Paradigmenwechsel vollziehen: von der Abwehr in die Offensive. Meine Kolleg*innen warten nur darauf, sie sind hoch motiviert, auch diese Kämpfe zu führen, sich progressiv aufzustellen. Gerade in Zeiten, in denen Rechtspopulisten, die Wissenschaft, Bildung und soziale Errungenschaften infrage stellen, Aufwind haben, müssen wir unsere Visionen in den Vordergrund stellen von guter Arbeit und von guter Bildung. Diese Stadt braucht unsere Vision, weil die Politik keine Vision mehr hat. Sie verwaltet Bildung nur.
Was heißt das konkret? Welche Projekte stehen an?
Vor 20 Jahren wurde in Berlin die Ganztagsschule eingeführt. Die Politik hat aber keine Vorstellung davon, wie eine gute Ganztagsschule aussehen kann. Wir wollen eine räumliche Ausstattung, die den Bedürfnissen der Kinder gerecht wird. Ansprechende Schulhöfe, die dem Recht der Kinder auf Spiel, Freizeit und Erholung gerecht werden. Wir wollen beispielsweise, dass die Schulverpflegung rekommunalisiert wird, dass vor Ort in der Schule gekocht wird. Wir fordern mehr Verwaltungspersonal um Pädagog*innen zu entlasten. Schulen müssen Orte sein, an denen Demokratie erfahrbar ist. Im Schulgesetz steht unter Paragraf 1: »Die Schule soll Individuen hervorbringen, die der Ideologie des Nationalsozialismus entschieden entgegentreten.« Bei den Wahlen sieht man aber, wie viele Jugendliche mit der AfD sympathisieren. Offenbar kann die Schule ihrem Auftrag nicht gerecht werden. Warum nicht? Ich habe Kolleginnen, die sagen, sie haben nicht die Zeit, sich solchen Themen zu widmen. Sie sind nur dabei, Klausuren abzunehmen. Um das zu ändern, haben wir gute Ideen. Kleinere Klassen und mehr Schulsozialarbeit gehören dazu.
Gökhan Akgün wurde im November mit 93 Prozent der Delegiertenstimmen zum Ko-Vorsitzenden der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) Berlin gewählt. Der gelernte Erzieher folgt auf Tom Erdmann, der wegen seines Umgangs mit einer illegal angefertigten Tonaufzeichnung einer Gewerkschaftssitzung zurückgetreten war.
Die GEW Berlin hat 31 000 Mitglieder. Mehr als 50 Prozent sind Lehrkräfte, 30 Prozent kommen aus der Kinder- und Jugenderziehung, 10 Prozent aus dem Wissenschaftsbereich. In den letzten Jahren ist die Gewerkschaft gewachsen, 2024 aber nur noch sehr leicht.
Das sind ja im Wesentlichen Forderungen an die politisch Verantwortlichen. Welche gewerkschaftlichen Themen stehen auf dem Programm?
Wir führen ein Projekt gegen rechts weiter, in dessen Rahmen wir auch an den Protesten gegen den AfD-Parteitag in Riesa teilgenommen haben. Die AfD greift gewerkschaftliche Errungenschaften massiv an. Die Kürzungen des Senats sind für uns noch nicht vom Tisch. Wir werden uns weiterhin dagegen wehren. Natürlich steht für uns der Kampf um Entlastung in der Wissenschaft, in Schulen und Kitas ganz weit oben auf der Agenda.
Sie haben in Ihrer Mitteilung zur Wahl auf Ihren Werdegang als Erzieher hingewiesen, der geprägt war von Brennpunktschulen. Wie fließt dieser Hintergrund in Ihre Arbeit ein?
Ich habe nicht nur an einer Brennpunktschule gearbeitet, sondern auch als Schüler selbst Brennpunktschulen besucht, die noch immer solche sind. Auch wenn die Horrorvorstellung, dass dort Chaos und Gewalt auf der Tagesordnung stehen, nicht dem entspricht, was ich erlebt habe – ich habe intelligente Kinder kennengelernt, die sozial und hilfsbereit waren –, habe ich festgestellt, dass die Kinder strukturell benachteiligt werden. Weder sie noch Pädagog*innen wollen an einer Brennpunktschule landen. Das ist keine zufällige Entwicklung. In Berlin haben ungefähr 60 Prozent der Kids einen sogenannten Migrationshintergrund. Wie kann es dann sein, dass die Quote an einer Schule bei 20 und an einer anderen bei 90 Prozent liegt? Die Leute wollen im Multikulti-Kiez wohnen, aber das eigene Kind soll nicht auf dieselbe Schule mit Nachbarkindern gehen. Dass auf den Diplomatenschulen in Mitte die Schüler*innen zu 90 Prozent einen Migrationshintergrund haben, ist andererseits kein Problem. Es geht also nicht um Herkunft, sondern um die soziale Frage. Den Rechtspopulisten ist es gelungen, die Gesellschaft in dieser Frage auseinanderzutreiben, indem sie die soziale Frage, die Klassenfrage ausblenden und eine Pseudodiskussion führen über die Herkunft. Hier mischen wir uns auch mit bildungspolitischen Fragen ein und suchen das Gespräch mit den Eltern. Es macht ja wenig Sinn zu sagen: »Das ist doof, dass ihre eure Kinder nicht auf eine Brennpunktschule schickt.«
Wenn wir den Migrationshintergrund mal ausklammern und auf die soziale Frage gehen: Die Weiße Siedlung, die Highdeck-Siedlung in Neukölln zum Beispiel sind von der Sozialstruktur so, dass es dort heute immer auf Brennpunktschule hinausläuft. Wie wollen Sie das über Einzugsgebiete verhindern?
Es gibt natürlich Kieze, die von Armut stark betroffen sind, dort gibt es wenig Möglichkeiten über die Einzugsgebiete Veränderungen vorzunehmen. In Friedrichshain-Kreuzberg haben wir aber Kieze, in denen eine Straße Sozialbauten von Schickimicki-Wohnungen trennt. In solchen Kiezen wohnen viele Menschen, die ich zu den Besserverdienenden zähle. Und dazwischen auch Brennpunktschulen.
Tarifvorhaben kamen in den von Ihnen genannten Zukunftsplänen nicht vor.
Die werden weitergeführt, etwa das Tarifvorhaben Gesundheitsschutz für kleinere Klassen an den Schulen. In der Kampagne für Entlastung an den öffentlichen Kitas werten wir die Begründung des Urteils, mit dem der Erzwingungsstreik verhindert wurde, noch aus.
Die GEW Berlin wird also am Tarifvertrag Gesundheitsschutz festhalten?
Warum sollten wir das nicht?
Ein Abschluss des seit Jahren laufenden Kampfes scheint immer weniger erfolgversprechend.
Wir haben im Dezember 3000 Beschäftigte auf die Straße gebracht. Das ist schon eine Nummer. Und wir sind weiterhin gesprächsbereit. Wir sind eine basisdemokratische Gewerkschaft. Die Tarifkommission wird sich mit den Entwicklungen auseinandersetzen, neu bewerten und eine Strategie beschließen. Aber dieses Tarifvorhaben wird weitergeführt.
Zu dem anderen Tarifvorhaben: Als Verdi vor knapp einem Jahr mit dem Vorhaben für kleine Kita-Gruppen in den landeseigenen Kitas an die Öffentlichkeit ging, war man bei der GEW verärgert. Verdi hatte wohl die GEW außen vor gelassen, obwohl die GEW mit der Idee zunächst auf Verdi zugegangen war. Wie haben Sie das erlebt?
Ich kann Ihnen nur sagen, dass es ein paar Kommunikationsprobleme gab. Das passiert. Ich komme aus DGB-Strukturen. Verdi ist unsere Schwestergewerkschaft. Wir haben großes Interesse an der Zusammenarbeit und Verdi auch. Unsere Kolleginnen in den Einrichtungen brauchen das auch. Es ist nicht vermittelbar, warum die eine Gewerkschaft zum Streik aufruft und die andere Gewerkschaft nicht – im gleichen Betrieb. Mir ist verdammt wichtig, dass wir die Gewerkschaften zusammenbringen. Gewerkschaftliche Vorhaben werden wir auch künftig gemeinsam anpacken.
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Mir haben GEW-Mitglieder berichtet, dass ihre Kita in der Hochphase der Streikmobilisierung von Verdi-Vertreter*innen regelrecht belagert worden seien, auch mit dem Versuch, Mitglieder abzuwerben. Sind das Einzelfälle?
Das passiert natürlich. Aber ich würde nicht sagen, dass Verdi die Strategie hat, GEW-Mitglieder abzuwerben. Wir werden weiterhin mit unseren Überzeugungen punkten.
Denken Sie, dass die Tarifkampagne Entlastung an den Kitas noch mal aufgenommen wird? Und ist es dann realistisch, sie mit der Kampagne für kleinere Klassen zu verbinden und Lehrkräfte und Erzieher*innen zusammenzubringen?
Beim letzten Streik an den Schulen haben wir sowohl Lehrkräfte als auch Erzieher*innen aufgerufen. Aber wir müssen mit Verdi perspektivisch diese Beschäftigtengruppen an den Schulen und Kitas zusammendenken. Das ist tarifrechtlich nicht einfach. Das Entlastungsvorhaben für die Kitas ist nicht weg. Lassen Sie mich in dem Zusammenhang noch mal sagen: Unsere Personalräte haben es geschafft, für den Bereich Schule auch punktuell Entlastungen mit der Senatsbildungsverwaltung zu vereinbaren. Es gibt für Erzieher*innen eine Dienstvereinbarung über die mittelbare pädagogische Arbeit. Täglich werde vier Stunden Vor- und Nachbereitung in der Schule als Arbeitszeit anerkannt. Diese Dienstvereinbarung ist bundesweit einmalig.
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