Doku »Schicksalsjahre eines Präsidenten«: Ein Gruselschocker

Donald Trump zieht zum zweiten Mal ins Weiße Haus ein. Eine Doku erklärt dies zum Teil eines Plans, den Ausnahmezustand zu normalisieren

  • Jan Freitag
  • Lesedauer: 4 Min.
Insgesamt die Ästhetik eines Autounfalls.
Insgesamt die Ästhetik eines Autounfalls.

Das Außergewöhnliche am Ausnahmezustand ist in der Regel nicht, wie abstoßend er ist, sondern wie anziehend. Wer je Augenzeuge einer Massenkarambolage, Kneipenschlägerei, Bombenexplosion oder offenen Bauchverletzung war, weiß ungefähr, wie unvermeidlich die drastische Abweichung vom Gewöhnlichen uns alle in ihren Bann zieht. Und der größte anzunehmende Ausnahmezustand, gewissermaßen Massenkarambolage, Kneipenschlägerei, Bombenexplosion und offene Bauchverletzung in einem, er heißt: Donald Trump.

Alles an dieser menschlichen Naturkatastrophe ist auf derart abstoßende Art anziehend oder umgekehrt, dass rätselhaft bleibt, warum ihn am 5. November exakt 77 303 673 Wahlberechtigte zum zweiten Mal nach 2020 ins Weiße Haus delegiert haben. Dieses offene Geheimnis versucht das Erste aktuell in der Mediathek zu entschlüsseln. Vielleicht ist es da kein Wunder, dass eine Autorin (Claire Walding) zuvor gern Adelsdokumentationen gedreht hatte und ihre Partnerin (Inga Turczyn) mehrere Rotlichtreportagen.

Die »Schicksalsjahre eines Präsidenten«, wie der Dreiteiler zwar aufdringlich, aber angemessen boulevardesk heißt, sind schließlich eine Spurensuche im Sumpf einer ehrwürdigen Demokratie auf dem Weg zur monarchistischen Kleptokratie. Mit einem Mann an der Spitze, »dem die Gier nach Erfolg in die Wiege gelegt« wurde, wie Sprecherin Anna Thalbach mit ihrer süßlichen Stimme aus dem Off erzählt. Die Wiege stand in Queens, wo der kleine Donald 1946 als viertes von fünf Kindern des Wohnungsspekulanten Fred Trump »mit goldenem Löffel im Mund« zur Welt kam.

Streng chronologisch geht die Reise von dort über hinlänglich bekannte Lebensetappen weiter: kaltes Elternhaus, strenge Militärakademie, solides Wirtschaftsstudium, Einstieg ins Immobilienimperium, erste Erfolge, Rassismusvorwürfe, erste Pleiten, Betrugsvorwürfe, erste TV-Shows, Missbrauchsvorwürfe. Alles ähnlich oft erzählt wie das Zitat seines rechtsradikalen Mentors, dem früheren McCarthy-Anwalt Roy Cohn: »Donald pisst Eiswasser«. Porträts dieser Ikone der Aufmerksamkeitsökonomie stapeln sich längst trumptowerhoch in den Fernseharchiven.

Der größte anzunehmende Ausnahmezustand, gewissermaßen Massenkarambolage, Bombenexplosion und offene Bauchverletzung in einem, er heißt: Donald Trump.

Die Netflix-Serie »An American Dream« hat den Aufstieg des cäsarenwahnsinnigen Diktators in spe schon 2017 umfassend dokumentiert. »The Art of the Insult« ging ein Jahr später bei PBS seiner analog-digitalen Kommunikation auf den Grund, was »Unfit« 2020 im Kino psychologisch zu deuten versuchte, während »Ein amerikanischer Traum« auf Arte die Dynastie dahinter dechiffrierte und »The Family« bei Netflix sein religiöses Netzwerk. Von einer endlosen Zahl eingehender Analysen des Putschversuchs am 6. Januar 2021 ganz zu schweigen.

Ein deutsches Format von überschaubarer Länge knapp oberhalb der Stundenmarke klingt demnach ein bisschen, nun ja, redundant. Wäre es nicht so exzellent recherchiert und würde den Blick auf eine Zukunft erweitern, die den Massenkarambolage-Kneipenschlägerei-Bombenexplosion-Bauchverletzungsvoyeurismus fast noch besser bedient als 78 himmelschreiende Höllenjahre Trump auf Erden zuvor. Oder wie es ARD-Korrespondentin Gudrun Engel ausdrückt: »Attackeattackeattacke, abstreitenabstreitenabstreiten und nie eine Niederlage eingestehen.« Davon kriegt das Publikum seit seiner ersten Kandidatur 2016 kaum genug.

»Schicksalsjahre eines Präsidenten« fügt dem Kanon bekannter Fakten also kaum etwas Neues hinzu. Selbst weniger bekannte Tatsachen wie die vergebliche Bewerbung als republikanischer Präsidentschaftskandidat anno 2000 oder Podcast-Aktivitäten seines jüngsten Sohnes Baron sind keine Verschlusssachen. Doch dank Zeitzeugen wie Trumps früherem Sicherheitsberater John Bolton oder Deutschlands Ex-Außenminister Sigmar Gabriel ist die Doku – trotz Jörg Wimalasena vom Musk-Fanzine »Welt« – nicht nur schlüssig besetzt. Sie hält den Spannungsbogen aus Fakten und Thrill, auch Infotainment genannt, souverän hoch. So gesehen ist die Doku eigentlich ein Gruselschocker.

Schließlich kommt der unendliche Strom dreister Lügen, mit denen Trump das globale Klima seit zehn Jahren noch stärker vergiftet als sein fossiler Schlachtruf »drill, drill, drill«, in keiner der knapp 70 Minuten ganz zum Erliegen und stellt unablässig die Frage: Wie konnten 77 Millionen Stimmberechtigte seiner Tatsachenverdrehung vor zehn Wochen erneut auf den Leim gehen? Die Antwort: weil er zeitlebens nichts anderes getan hat, als den Ausnahmezustand zu normalisieren. Und das nun abermals im Weißen Haus. »Ich bin besorgt, dass er einige seiner Wahlversprechen umsetzen wird«, sagt selbst der abgebrühte Politveteran John Bolton. Was für ein Horrorfilm.

Verfügbar in der ARD-Mediathek.

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