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»Wir-Gefühl«: Vom Trick der Bürgerlichen nicht blenden lassen

Olivier David über »Wir«-Erzählungen, die die Realität gar nicht hergibt

Gemeinsamer Nenner bei einer Demonstration des Bündnisses »Wir sind die Brandmauer«: für Demokratie und gegen Rechtsextremismus.
Gemeinsamer Nenner bei einer Demonstration des Bündnisses »Wir sind die Brandmauer«: für Demokratie und gegen Rechtsextremismus.

»Deutsche hadern mit Zustand der Demokratie« titelt der »Spiegel« vergangene Woche. Das Ergebnis einer repräsentativen Befragung des »Deutschland-Monitors«: 40 Prozent der Befragten sind mit dem Zustand der Demokratie hierzulande unzufrieden. Vor allem in ökonomisch abgehängten Regionen ist die Unzufriedenheit über Ungleichheit und die Angst vor sozialem Abstieg am höchsten. Der Ostbeauftragte der Bundesregierung, Carsten Schneider, führt die hohen Zahlen vor allem auf »Abwertungserfahrungen seit den Neunziger Jahren und fehlende Repräsentation« zurück.

»Klar!«, möchte man Schneider zurufen, uns fehlt ein richtiger Arbeiter vom Format eines Gerhard Schröders, bei dem es schön menschelt, wenn er sich eine neue Boshaftigkeit gegen arme Menschen ausdenkt. Armutsbetroffene sind gleich weniger sauer, wenn die nächste Kürzung von »einem der ihren« ausgesprochen wurde. Spaß beiseite.

Ein weiteres Ergebnis der Studie ist, dass das Wir-Gefühl der Deutschen nur noch gering ausgeprägt ist. 31 Prozent, also weniger als jede*r dritte Befragte, hat ein stabiles Grundvertrauen in seine Mitmenschen. Vielleicht hat das ja mit ganz konkreten Verschlechterungen der Menschen in ihrem Alltag zu tun. So hat sich zum Beispiel das Vermögen der unteren Hälfte der Bevölkerung von 1993 bis 2018 fast halbiert. Im Zeitraum von 2005 bis 2023 ist die Armutsgefährdungsquote um 1,9 Prozent auf 16,6 Prozent gewachsen.

Olivier David

Olivier David ist Autor und Journalist. 2022 erschien von ihm »Keine Aufstiegsgeschichte«, in dem er autobiografisch den Zusammenhang von Armut und psychischen Erkrankungen beschreibt. Bevor er mit 30 den Quereinstieg in den Journalismus schaffte, arbeitete er im Supermarkt und Lager, als Kellner und Schauspieler. 2024 erscheint sein Essayband »Von der namenlosen Menge« im Haymon Verlag. Für »nd« schreibt er in der 14-täglichen Kolumne »Klassentreffen« über die untere Klasse und ihre Gegner*innen. Alle Texte auf dasnd.de/klassentreffen. Zudem hostet er einen gleichnamigen Podcast über Klasse, Krise und Kultur. Alle Folgen auf dasnd.de/klasse.

Wie geht man damit nun um? Ein Weg ist es, überall ein Wir zu konstruieren, wo es die Realität gar nicht hergibt. Gerade Journalismus ist regelrecht durchsetzt von Wir-Botschaftern, die noch in den absurdesten Situationen das Wir in den Vordergrund stellen.

Ein Beispiel: Vergangene Woche betitelte die »Zeit« eine Reportage über die dramatischen Waldbrände in Kalifornien mit den Worten »Vor dem Feuer sind alle gleich«. In dem Text stehen so wunderbare Sätze wie »Und den finanziellen Schaden, der einen Kellner ungleich härter trifft als einen Hollywoodstar, einmal ausgeklammert: Der Verlust eines Zuhauses ist immer grausam.« Ein paar Tage später ist das Wir-hängen-da-alle-gemeinsam-drin-Gefühl in Kalifornien entweder erloschen – oder aber es war nie da. Wieder die »Zeit« betitelt diesmal ihre neue Geschichte aus Kalifornien mit den Worten »Private Feuerwehr in Los Angeles: Für 70 000 Dollar schützen wir Ihr Haus«. Abseits dessen, dass Reiche und Kellner nicht so viel gemein haben, und mal davon abgesehen, dass Reiche sich ihr Haus schützen lassen können und ebenfalls abgesehen davon, dass dort jeder dritte Feuerwehrmann ein Gefangener ist, der pro Arbeitstag fünf bis zehn Dollar bekommt und dafür akuter Lebensgefahr ausgesetzt ist; abgesehen von all dem sind vermutlich wirklich alle Gleich. Haha.

Das Phänomen hat natürlich nichts mit den Waldbränden zu tun, auch während Corona haben Politik und Journalismus versucht, der Bevölkerung weiszumachen, wir säßen alle im selben Boot, dabei war das natürlich Quatsch. Dieses »Wir« hat die Funktion, Widersprüche in einer hochgradig ungerechten Gesellschaft zu versöhnen. Sich von diesem Trick der Bürgerlichen nicht blenden zu lassen, das muss unsere Aufgabe sein – und vielleicht finden wir (!) ja tatsächlich einen ehrlichen gemeinsamen Nenner. Er wäre nötig.

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