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Großbritannien: Patientenbehandlung im Krankenhausflur
Erschreckende Zustände in der Notfallversorgung des britischen Gesundheitsdienstes
»Ich musste einem gebrechlichen, dementen Patienten mit Inkontinenz neben einem Verkaufsautomaten im Krankenhausflur die Kleider wechseln«, berichtet eine Pflegefachperson. Eine andere kümmerte sich um mehrere Patienten, die auf Rollbetten im Korridor lagen oder auf Stühlen saßen, weil in den Krankenzimmern keine Betten frei waren. »Ich musste Kollegen (oder Angehörige!) bitten, Decken hochzuhalten, um ihnen ein bisschen Privatsphäre zu geben.«
Tausende Pflegerinnen und Pfleger in britischen Krankenhäusern machen dieser Tage solche Erfahrungen: Patienten – in manchen Fällen mehrere Dutzend – liegen stundenlang in den Fluren oder in kalten Wartezimmern, haben keinen Zugang zu Sauerstoffflaschen oder anderen medizinischen Geräten, können oft nicht mal eine Toilette benutzen. Viele werden mitten im Gewusel des Krankenhausbetriebs behandelt, manchmal wird die lebensrettende Herz-Lungen-Reanimation vor den Augen der anderen Patienten verabreicht. Manche sterben im Krankenhausflur.
Die Schilderungen stammen aus einem Bericht des Pflegerfachverbands Royal College of Nursing (RCN), für den Ende Dezember und Anfang Januar 5400 Fachkräfte im ganzen Land befragt wurden. Gut zwei Drittel der Pflegekräfte sagten, sie müssten Patienten täglich unter »unsicheren Bedingungen« behandeln. Ein Londoner Krankenhaus hat sogar eine Stelle als »Korridorpfleger« ausgeschrieben. Ein anderes Spital im Osten der Hauptstadt musste in den vergangenen Wochen 19 zusätzliche Pfleger rekrutieren, um den Andrang zu bewältigen; die Notaufnahme ist auf 325 Patienten pro Tag ausgelegt – heute sind es manchmal mehr als doppelt so viele.
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Der RCN spricht deshalb von einer »Krise der Korridorpflege«. Es sei »schockierend«, dass solche Zustände als neue Norm akzeptiert werden, sagt die Vorsitzende Nicola Ranger. Die so weitverbreitete Korridorpflege sei eine direkte Folge des »Unwillens der Regierungen, den (staatlichen Gesundheitsdienst) NHS und die Sozialfürsorge zu reformieren und in die Belegschaft zu investieren«. Die Pflegerinnen und Pfleger trügen die Hauptlast dieses Versagens.
Seit Jahren verschlimmert sich der Zustand in britischen Krankenhäusern. Im September kam selbst ein von der Regierung in Auftrag gegebener Bericht über den NHS in England zu dem Schluss, dass der Gesundheitsdienst »in ernsten Schwierigkeiten« stecke und sich insbesondere die Notfallversorgung in einem »schrecklichen Zustand« befinde. Hauptgrund sei die Unterfinanzierung im Zug der Austeritätspolitik ab 2010. Daher fehlt es überall es an klinischem Personal und an Ausrüstung, zudem sind Teile der Infrastruktur baufällig. In jedem Winter, wenn Atemwegserkrankungen zu mehr Hospitalisierungen führen, spitzt sich diese Krise zu.
In diesem Jahr ist es besonders schlimm. Eine außergewöhnlich heftige Grippewelle hat den Druck auf den NHS erhöht. Im Dezember vervierfachte sich die Zahl der Patienten, die mit Influenza ins Krankenhaus eingeliefert wurden. Anfang Januar lagen dreimal so viele Grippe-Erkrankte in Spitälern wie im selben Monat vor einem Jahr. Verschärft wird die Lage durch den Ausbruch weiterer Atemwegserkrankungen sowie von Norovirus-Infektionen. Anfang Januar musste mehr als ein Dutzend Krankenhäuser wegen des Andrangs einen Notstand ausrufen. Die Kliniken im ganzen Land stünden unter »außergewöhnlichem Druck«, sagte Stephen Powis, medizinischer Direktor des NHS. Es fühle sich zuweilen an »wie manche Tage auf dem Höhepunkt der Covid-Pandemie«.
Allerdings begann die Krise der Korridorpflege schon lange vorher. Bereits im Juni warnte der RCN vor einem »nationalen Notstand«, da immer mehr überbelegte Krankenhäuser Patienten unter improvisierten Bedingungen behandeln müssten, im Flur oder manchmal sogar in Parkhäusern.
Adrian Boyle, der Präsident des Notfallarztverbands Royal College of Emergency Medicine, sagte letzte Woche, dass der aktuelle RCN-Bericht einen »Wendepunkt« darstellen müsse. Er sei »schockiert und entsetzt«, dass die klinischen Fachkräfte gezwungen seien, ihren Patienten eine solch miese Qualität der Pflege zu bieten. Die Regierung müsse sich dringend darum kümmern, den NHS wieder auf Vordermann zu bringen.
Gesundheitsminister Wes Streeting versprach nun, dafür zu sorgen, dass die Korridorpflege bald »der Geschichte angehört«. In Kürze werde er einen Plan für die Verbesserung der Notfallpflege vorlegen. Die Labour-Regierung hat zudem eine längerfristige Reform des NHS angekündigt, die im Frühjahr publiziert werden soll. Allerdings dämpft Streeting die Erwartung, dass sich schnelle Verbesserungen einstellen werden: »Ich kann nicht versprechen, dass es nächstes Jahr keine Patienten gibt, die in den Korridoren behandelt werden.«
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