Raus aus dem Gedankenkarussell

»Der Flow-Kompass« zeigt, wie künstlerische Hobbys zu mehr Gelassenheit im Alltag verhelfen können

  • Angela Stoll
  • Lesedauer: 4 Min.
An der Staffelei fällt es leichter, auf andere Gedanken zu kommen.
An der Staffelei fällt es leichter, auf andere Gedanken zu kommen.

»Mach dir mal keine Gedanken!« Der Satz zeigt, dass es jemand gut mit uns meint. Doch abgesehen davon ist die Floskel leider komplett unnütz. Gedanken lassen sich nicht einfach ablegen wie ein Mantel, den man in die Garderobe hängt. »Wir können unsere Gedanken nicht loswerden, indem wir beschließen, sie nicht mehr zu denken«, schreibt Julia Christensen in ihrem Buch »Der Flow-Kompass«. »Das ist kein Zeichen für fehlende Willenskraft, sondern eine ganz grundlegende Ausstattung unseres Gehirns.« Aber was tun, wenn das Gedankenkarussell nicht stillstehen will? Meditation kann für manche Menschen ein Ausweg aus dem Dilemma sein, funktioniert aber nicht bei allen.

Eine andere Möglichkeit abzuschalten bietet sich über Kunst und Kreativität: Durch Musizieren, Tanzen, Malen oder Fotografieren kann man in einen »Flow« kommen. Mit diesem Begriff, den der ungarische Psychologe Mihály Csikszentmihalyi maßgeblich prägte, ist gemeint, dass ein Mensch in seiner aktuellen Tätigkeit ganz aufgeht. Das Phänomen ist mit einer Art Trance-Zustand vergleichbar, in dem man alles andere um sich herum vergisst. Solche Zustände sind laut Christensen mehr als nur Ausflüchte aus dem Alltag: Regelmäßige Flow-Erlebnisse, wie sie durch kreative Betätigungen erzeugt werden, wirken sich positiv auf die Gesundheit aus und könnten auch vor psychischen Problemen, etwa depressiven Symptomen, schützen. Eindeutig belegt ist der Zusammenhang zwar noch nicht, doch gibt es immerhin Hinweise auf Studien, die in diese Richtung deuten.

Die Autorin weiß, wovon sie schreibt. Als ehemalige Profi-Balletttänzerin hatte sie die Glücksgefühle gekannt, die entstehen können, wenn man sich zu Musik bewegt. Rückenprobleme zwangen sie dazu, die Tanzkarriere aufzugeben und sich neu zu orientieren: Sie wurde Neurowissenschaftlerin und beschäftigte sich nun auf theoretischer Basis mit dem Flow-Erleben. Ihrer ständig kreisenden Gedanken konnte sie aber kaum Herr werden, bis sie das Zeichnen und Schreiben für sich als neues künstlerisches Ventil entdeckte. Dadurch wurde ihr klar, dass ganz unterschiedliche Wege zu mehr Ruhe und Gelassenheit führen. Den Leserinnen und Lesern möchte sie dabei helfen, ihre kreative Ader zu entdecken, um innere Ausgeglichenheit zu erreichen. Dazu erklärt sie im ersten Teil ihres Buches die neurowissenschaftlichen Grundlagen, etwa warum sich Gedanken nicht unterdrücken lassen. Im zweiten Teil geht es um praktische Tipps, die dabei helfen sollen, über Kreativität in den Flow zu geraten.

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Was aber, wenn man künstlerisch nicht begabt ist? Begabung spielt bei Tätigkeiten, wie die Autorin sie im Sinn hat, keine Rolle. Es geht nicht um Bilder für Ausstellungen oder konzertwürdiges Musizieren. Jedes kreative Hobby, das Freude bereitet, kann Flow-Erlebnisse bescheren: sei es Singen, Basteln, Kochen oder Handarbeiten. Wichtig ist allerdings, dass man die künstlerische Betätigung regelmäßig und nicht überambitioniert ausübt. Leistungsdruck und die Angst, den Urteilen anderer nicht standhalten zu können, können sogar kontraproduktiv wirken, da sie Stress auslösen. Laut Csikszentmihalyi kommt man schließlich nur dann in den Flow, wenn man weder unter- noch überfordert ist.

»Flow« ist derzeit ein Modebegriff, dessen inflationärer Gebrauch negative Reaktionen auslösen kann. Die Bedenken verfliegen aber, wenn man sich in die Lektüre des Buchs vertieft, da es sich um eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Thema handelt. Trotz der komplizierten Materie ist es leicht zu lesen, stellenweise sogar richtig unterhaltsam. Einen großen Beitrag dazu leisten viele anschaulichen Beispiele.

Wer also eine trockene wissenschaftliche Lektüre erwartet, wird vom Plauderton der Autorin überrascht sein. Sie schreibt in der »Ich-Form« und wendet sich immer wieder direkt an die Leserin oder den Leser, etwa folgendermaßen: »Stell dir einen rosaroten Elefanten vor«. Das wirkt oft etwas salopp und ist gewöhnungsbedürftig. Doch das Buch will schließlich keine Fachlektüre sein, sondern Forschungsergebnisse laienverständlich kommunizieren. Das gelingt gut. Dass die Autorin dafür einen Berg an wissenschaftlicher Literatur verarbeitet hat, spiegelt sich in der beeindruckenden Zahl an Fußnoten und Verweisen wider.

Julia F. Christensen: Der Flow-Kompass. Ein wissenschaftlicher Wegweiser zu mehr Gelassenheit und Glücksmomenten. Ullstein, Berlin 2024. 384 S., 18,99 €.

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