»Lichtermeer« gegen Rechtsruck

Über Hunderttausend Menschen demonstrieren bundesweit gegen AfD und Friedrich Merz

Friedrich Merz und Alice Weidel – als Filmszene aus »Titanic«: Die Demonstrationen machten für den Rechtsruck auch die Union verantwortlich.
Friedrich Merz und Alice Weidel – als Filmszene aus »Titanic«: Die Demonstrationen machten für den Rechtsruck auch die Union verantwortlich.

Ein Jahr nach der als »Geheimtreffen« bekannt gewordenen Potsdamer Zusammenkunft rechtsextremer Scharfmacher, Politiker und Unternehmer haben am Samstag nach Polizeiangaben um die 100 000 Menschen gegen einen Rechtsruck demonstriert – nach Angaben der Veranstalter waren es sogar deutlich mehr. In Berlin versammelten sich am Brandenburger Tor Menschen aller Altersgruppen, darunter viele Familien, um mit einem »Lichtermeer« aus Handyleuchten ein Zeichen des Zusammenhalts zu setzen. Allein dort sollen es rund 100 000 Demonstrierende gewesen sein, die Polizei schätzte 35 000.

An einer weiteren Großdemonstration gegen rechts in Köln nahmen 70 000 Menschen teil, die Polizei sprach von 40 000 – deutlich weniger waren von den Veranstaltern erwartet worden. Aufgerufen hatte das Bündnis »Köln stellt sich quer«, das von zahlreichen Vereinen, Parteien, Gewerkschaften und Initiativen unterstützt wird.

Auch in weiteren deutschen Städten hatten Organisationen zu Versammlungen aufgerufen, 10 000 Menschen sollen dem allein in Ravensburg gefolgt sein. Nun hoffen die Veranstalter bundesweit auf eine neue Protestwelle. Die Kampagnenorganisation Campact will Anfang der Woche weitere Aktionen bekannt geben, wie eine Sprecherin mitteilte.

Vier Wochen vor der Bundestagswahl sollen die Proteste ein deutliches Signal gegen Rechtsextremismus und die in Teilen erwiesen rechtsextreme AfD senden. Sie richteten sich aber auch gegen CDU-Chef Friedrich Merz. Demonstrierende hatten selbst gemalte Pappschilder dabei mit Aufschriften wie »Wir steh’n kurz vorm Merzinfarkt« oder »Merz, Söder, Spahn, Steigbügelhalter des Faschismus«, wie eine Journalistin der Nachrichtenagentur AFP berichtete.

Der Unionskanzlerkandidat hatte sich für eine deutliche Verschärfung der Sicherheits- und Migrationspolitik ausgesprochen und durchblicken lassen, bei entsprechenden Bundestagsanträgen auch Stimmen der AfD in Kauf zu nehmen. Viele Menschen seien darüber »schockiert«, erklärte Christoph Bautz, geschäftsführender Vorstand der Organisation Campact, die zu den Protesten mit aufgerufen hatte. Vor zwei Wochen habe Merz dies noch ausgeschlossen. »Auf ihn ist kein Verlass bei der Verteidigung unserer Demokratie.«

Auch die Klimaaktivistin Luisa Neubauer übte scharfe Kritik am CDU-Vorsitzenden. »Es ist unverzeihlich, inakzeptabel und feige, dass Friedrich Merz im Begriff ist, die Brandmauer gegen die AfD einzureißen«, sagte sie der Deutschen Presse-Agentur. Die gesellschaftliche Situation sei geprägt von wachsendem Hass, Klimaleugnung und rassistischen Tendenzen. Viele Menschen fühlten sich angesichts dieser Entwicklungen hilflos. Dies nutzten rechtsradikale Kräfte aus, die nach Neubauers Ansicht darauf setzen, dass die demokratische Mehrheit resigniert.

Die Kampagnenorganisation Campact will Anfang der Woche weitere Aktionen bekannt geben.

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Die Präses der Synode der Evangelischen Kirchen in Deutschland, Anna-Nicole Heinrich, betonte, man schweige nicht, wenn Menschen ausgegrenzt, angegriffen oder bedroht würden. »Deswegen leisten wir Widerstand, wenn jemand die Demokratie attackiert.« An Politikerinnen und Politiker appellierte sie, im Wahlkampf nicht die Fakten zu verdrehen.

Sonya Weber von der Initiative »Eltern gegen Rechts« erklärte, die »großartige Beteiligung« zeige, dass viele Eltern sich große Sorgen um die Zukunft ihrer Kinder machten und gemeinsam aufstünden. »Wir fordern, dass die Politik klare Kante gegen rechts zeigt und endlich Probleme wie Bildung, Wohnen und Klimaschutz anpackt – für den Schutz unserer Demokratie und die Zukunft unserer Kinder.«

Das Bündnis fordert nach eigenen Angaben eine wehrhafte Demokratie durch die Förderung von Demokratie-Initiativen, Verbote von Demokratie-Feinden, den Schutz der Lebensgrundlagen aller Menschen, den konsequenten Kampf gegen Desinformationen und die Aufrechterhaltung der Brandmauer gegen die AfD.

Die Aktivisten hoffen auf eine erneute große Protestwelle wie vor einem Jahr. Nach Bekanntwerden eines nicht öffentlichen Treffens in Potsdam, bei dem AfD-Vertreter und Rechtsextremisten Pläne zur Ausweisung von Millionen Menschen in Deutschland diskutiert hatten, hatte es mehrere Wochen lang regelmäßig Proteste gegen rechts mit insgesamt Hunderttausenden Teilnehmern in vielen Städten gegeben.

Im sächsischen Bautzen hingegen waren die Aktivisten gegen rechts deutlich in der Minderheit. Laut Polizei beteiligten sich 500 Menschen an einem Aufmarsch »Gegen die Willkür der Regierung und das Morden durch kriminelle Ausländer«. Zu einer Gegendemonstration kamen demnach nur 45 Personen. Die Polizei meldete »lautstarke verbale Wortgefechte« und einzelne »verfassungswidrige« Parolen und Gesten, bilanzierte insgesamt aber einen »friedlichen Verlauf«.

In Halle an der Saale, wo die AfD offiziell ihren Wahlkampfauftakt abhielt, zählte die Polizei 9100 Gegendemonstranten. Auch hier blieb es nach Angaben der Behörde zunächst friedlich, zu groß angelegten Blockadeaktionen wie rund um den AfD-Parteitag in Riesa vor zwei Wochen sei es nicht gekommen. Nach kleineren Ausschreitungen habe die Polizei jedoch eine Reihe strafrechtlicher Ermittlungsverfahren eingeleitet, unter anderem wegen gefährlicher Körperverletzung, Nötigung, Beleidigung, gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr und Landfriedensbruchs. 1000 Einsatzkräfte waren dabei im Einsatz.

In der Nacht zum Sonntag hatten Unbekannte außerdem eine Schützenhalle im Wahlkreis des CDU-Bundestagsabgeordneten und Generalsekretärs der CDU Nordrhein-Westfalens Paul Ziemiak in Menden mit antifaschistischen Graffitis versehen. Dort sollte Friedrich Merz am Sonntag bei einem sogenannten Neujahrsempfang auftreten. Darüber berichtete die »Bild«-Zeitung, wonach der Veranstaltungsort »überfallen und verunstaltet« worden sei. Parolen wie »Merz aufs Maul«, »Antifa in die Offensive« und »Klassenkampf« wertete der Autor als Aufruf zur Gewalt. Gegen die Veranstaltung hatten auch die Jusos Menden und die Grüne Jugend Protest angekündigt. Wie auch bei den »Lichtermeer«-Protesten wurde Merz von der SPD-Jugend als »Steigbügelhalter« für Faschisten bezeichnet.

Ebenfalls in Springer-Medien wurde eine Berichterstattung von Krawall-Magazinen wie »Nius« verstärkt, die sich über ein Selfie verschiedener Grünen-Politiker empörten, das die Parteivorsitzende Franziska Brantner auf der Plattform X geteilt hatte. Darauf zu sehen sind unter anderem der Ko-Vorsitzende Felix Banaszak, Katrin Göring-Eckardt und Familienministerin Lisa Paus sowie im Hintergrund die Aktivistin Neubauer. »Grinse-Grüne lösen Protest-Sturm aus«, heißt es dazu in der »Bild«, was jedoch vor allem auf rechte Filterblasen zutrifft. Mit Agenturen

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