Serbien: Der Protest hat eine neue Qualität

Der aktuelle serbische Widerstand ist selbstorganisiert und damit anders als seine Vorgänger

  • Milica Popović
  • Lesedauer: 5 Min.
Serbiens Straße ruft nach neuen Helden für das Land.
Serbiens Straße ruft nach neuen Helden für das Land.

Am Ende war der Druck der Straße für Miloš Vučević doch zu groß geworden. Nach einem 24-stündigen Generalstreik, bei dem wichtige Verkehrswege in Belgrad blockiert worden waren, und nach dem brutalen Angriff eines Schlägertrupps der Regierungspartei SNS auf Studenten in Novi Sad trat Serbiens Ministerpräsident am 28. Januar von seinem Amt zurück. Seine Entscheidung habe er Präsident Aleksandar Vučić in einem langen Gespräch erläutert, sagte Vučević vor der Presse. Vučić selbst sieht sich durch die Proteste nicht geschwächt und kann sich Neuwahlen vorstellen, um die Straße zu beruhigen. Die Studenten beschwichtigt das nicht, sie haben bereits neue Aktionen angekündigt.

Protest ist in den vergangenen 30 Jahren zu einem Teil der serbischen DNA geworden. Seit den 90er Jahren befindet sich das Land in einem ständigen Kampf gegen autoritäre Regierungen, Korruption, durch die sogenannte ökonomische Transformation bedingte Verarmung, organisiertes Verbrechen und Gewalt. Aufgrund der Kriege der Vergangenheit, Sanktionen und des aufgezwungenen neoliberalen Wandels, der das Land in eine semiperiphere Kolonie voller billiger Arbeitskräfte verwandelt hat, liegt Serbien wirtschaftlich am Boden. Glücklich ist, wer einen Arbeitsplatz oder eine Wohnung ergattert.

Präsident Aleksandar Vučić ist die zentrale Figur

Eine der zentralen Figuren dieser Gemengelage ist Aleksandar Vučić. Als nationalistischer Politiker der Serbischen Radikalen Partei war er Teil der Kriegsmaschinerie des früheren Staatschefs Slobodan Milošević. 2008 gründete er die nationalkonservative Serbische Fortschrittspartei (SNS) und hat sich seit 2012 in serbischen Machtpositionen festgesetzt. Während seiner Zeit als Ministerpräsident (2014–2017) und Präsident (seit 2017) haben sich die Oppositionsparteien allmählich aufgelöst. Neue politische Kräfte, die immer wieder auftauchten, konnten sich nicht durchsetzen. Die SNS hingegen wurde zur größten Partei der serbischen Geschichte mit geschätzt 800 000 Mitgliedern. Auch die Medien hat die Regierung durch Einschüchterungsversuche und Erpressungen im Griff.

Vieles änderte sich am 1. November 2024, als in Novi Sad das Vordach des Hauptbahnhofs einstürzte. 15 Menschen kamen dabei ums Leben. Der Bahnhof war gerade erst für viele Millionen frisch saniert worden. Insgesamt 82 Subunternehmen waren daran beteiligt, darunter Unternehmen aus China, Ungarn, Frankreich, Bosnien-Herzegowina und Serbien.

Menschen fordern Aufklärung des Unglücks von Novi Sad

Nach dem Unglück entstand eine Bürgerinitiative, die jeden Tag um 11:52 Uhr, dem genauen Zeitpunkt der Tragödie, 15 Schweigeminuten einlegte. Am 22. November kam es zu ersten Übergriffen, als Studierende in Belgrad während der Schweigeminuten von einem gut organisierten Mob angegriffen wurden. Einschüchtern ließen diese sich davon nicht. Drei Tage später veröffentlichten sie eine Liste mit konkreten Forderungen: Identifizierung und Verhaftung der für den Angriff verantwortlichen Personen, Freilassung festgenommener Demonstrant*innen und Einstellung der Strafverfahren gegen sie, Veröffentlichung der vollständigen Dokumentation über die Renovierung und den Einsturz des Bahnhofsdaches und eine Erhöhung des Hochschulbudgets um 20 Prozent.

Kurz darauf war die Belgrader Universität besetzt und die Bewegung breitete sich im ganzen Land aus. Die Studierenden organisierten sich in Plenarversammlungen, die sich an Grundsätzen der direkten Demokratie orientierten und Anführer*innen oder hierarchische Strukturen sorgfältig vermieden.

Aktueller Protest ist unabhängig von außen

Serbiens aktuelle neue Protestgeneration überrascht mit ihrer tatsächlichen Unabhängigkeit und kontinuierlichen Selbstorganisation, die ein Bündnis mit einer politischen Partei, NGO oder sozialen Bewegung sowie jeglichen Einfluss von außen ablehnt und sich ausschließlich auf die Kraft der – gebildeten – Jugend des Landes verlässt.

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Mittlerweile gehen die Proteste über die – immer noch besetzten – Universitäten hinaus. Auch Gymnasiast*innen und Lehrer*innen organisierten sich. Viele Grund- und Sekundarschulen schlossen sich an und traten in irgendeiner Form in den Streik. Landesweit gingen in 150 Städten bis zu 100 000 Menschen auf die Straße.

Staat reagiert mit Gewalt auf die Proteste

Am 24. Januar fand dann ein eintägiger Generalstreik statt, an dem sich die Gewerkschaften der Kulturschaffenden, einige Richter*innen, Beschäftigte des staatlichen Stromversorgers und des Rundfunks, Landarbeiter*innen und die nationale Anwaltskammer beteiligten. Die klassenübergreifende Solidarität wurde breiter und vertiefte sich.

Überschattet wurden die Proteste immer wieder durch staatliche Gewalt. Zwei Studierende wurden schwer verletzt, als sie absichtlich mit Autos angefahren wurden. Der Angriff des Schlägertrupps war schließlich zu viel, Ministerpräsident Vučević gab sein Amt auf.

Keiner weiß, was kommen soll

Als Otpor in einer sogenannten Revolution am 5. Oktober 2000 Slobodan Milošević stürzte, wurden die Studierenden von den USA und europäischen Mächten ausgebildet und finanziert. Heutzutage ist die Trump-Administration eine starke Unterstützerin von Präsident Vučić, die EU giert nach den Lithiumvorkommen in Serbien und befürwortet den Deal mit Rio Tinto, einem Unternehmen mit Verbindungen zu den deutschen Grünen. Ein Interesse an der Destabilisierung Serbiens dürften Washington und Brüssel nicht haben. Gleiches gilt für den Kreml und Peking. So bleiben die Proteste in Serbien völlig souverän, aber auch ohne jegliche Unterstützung von außen.

Seit über 30 Jahren besteht in Serbien das Bedürfnis nach Veränderung. Doch der sich aktuell aufdrängenden Frage, was danach kommen soll, versuchen alle auszuweichen. Das Land braucht Klarheit darüber, wie die korrumpierten Strukturen lokaler Krimineller, globaler Unternehmen und internationaler Mächte in demokratische Strukturen umgewandelt werden sollen. Solange es sie nicht gibt, bleibt es schwer bis unmöglich, sich die Zukunft Serbiens vorzustellen.

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