Jugendstrafanstalt in Berlin: Die Gedanken sind frei

Inhaftierte Jugendliche erinnern an die Ermordung eines jungen Antifaschisten in Plötzensee – und schreiben Texte über den Faschismus

Die Helmuth-Hübener-Schule ist nach einem 17-jährigen Jugendlichen benannt, der 1942 von den Nazis hingerichtet wurde, weil er antifaschistische Flugblätter verteilt hatte.
Die Helmuth-Hübener-Schule ist nach einem 17-jährigen Jugendlichen benannt, der 1942 von den Nazis hingerichtet wurde, weil er antifaschistische Flugblätter verteilt hatte.

Wenn er nach der Vorstellung zurück in seine Zelle geht, merke er plötzlich wieder, wo er eigentlich ist, sagt Nico im Gespräch mit »nd«. Er wirkt aufgeregt und erleichtert zugleich – genauso wie seine Freunde Yilmaz, George, William, Julius und Lukas. Die sechs jungen Männer standen soeben auf einer Bühne und führten ein Theaterstück vor Publikum auf. Sie schlüpften in historische Rollen: Joseph Goebbels, Georgi Dimitroff oder Helmuth Hübener.

Die jungen Männer verließen für ein paar Stunden ihre sonstigen Rollen: Sie sind Inhaftierte in der Jugendstrafanstalt (JSA) Plötzensee in Berliner Ortsteil Charlottenburg-Nord. Zwischen fünf und neun Jahren Haft lautet ihr Strafmaß. Am Dienstag spielen sie vor einem geladenen Kreis von rund 30 Menschen. Im Publikum sitzen andere Inhaftierte, Jurist*innen, Justizvollzugsbeamte, Lehrer*innen und Student*innen der Alice-Salomon-Hochschule.

Schule mit Geschichte

Vor dem Stück müssen die Zuschauer*innen durch mehrere Türschleusen und eine Kontrolle inklusive Metalldetektor. Erst dann dürfen sie die Aula der Helmuth-Hübener-Schule (HHS) auf dem Gelände der JSA Plötzensee betreten. Seit 2020 erinnert die HHS mit ihrem Namen an das jüngste Opfer, das die Nationalsozialisten in Plötzensee umbrachten. Dort, wo heute Schüler*innen ihren Mittleren Schulabschluss machen, befand sich einst eine Hinrichtungsstätte. Mehr als 2800 Menschen ermordeten die Nazis laut der Gedenkstätte Deutscher Widerstand zwischen 1933 und 1945 in Plötzensee.

80 der knapp 300 Gefangenen in der JSA biete die HHS einen Schulplatz, sagt Leiterin Birgit Lang »nd«. Sie ist sichtlich stolz auf ihre Schüler*innen, von denen alle ihren Abschluss schaffen würden. Zwischen 7:30 und 14:30 Uhr pauken sie Deutsch, Mathematik und Geschichte, wie an jeder anderen Schule auch.

Hoffnung / Allein träumen / Ruhe und Dunkelheit / Man wartet auf Freiheit / Knast

Gedicht von Mustafa,
das in der JSA Plötzensee aushängt

Vorhang auf

Ein Dreivierteljahr hätten die sechs 21-jährigen Schauspieler an dem Theaterstück gearbeitet, informiert Lang das Publikum vor Beginn der Vorführung. Die Gedenkstätte Deutscher Widerstand unterstützte bei der Recherche, der Berliner Regisseur Tamer Yiğit bei der Inszenierung. Zum zweiten Mal setzt sich die HHS mit dem Leben Hübeners auseinander – mit einem Unterschied, wie Lang betont: Diesmal lag der Fokus stärker auf dem historischen Klima zu Hübeners 17 Jahre kurzer Lebenszeit, der Machtergreifung der Nationalsozialist*innen.

»Er ist ein Wanderer zwischen den Zeiten«, sagt einer der Schauspieler über Hübener zu Vorstellungsbeginn. Die Schauspieler werden entweder zu historischen Personen, treten als eine Art »Stimme aus dem Off« auf und kommentieren das Geschehen oder rappen Gedichte, die sie selbst geschrieben haben – inspiriert von zeitgenössischen Poeten.

»Leute gebt acht, hört die Geräusche in der Nacht«, rappt einer. Es ist 1933. Die Arbeitslosenquote im Deutschen Reich liegt bei knapp 30 Prozent. Hitler wird von Hindenburg zum Reichskanzler ernannt. Die ersten Konzentrationslager werden errichtet. Ein anderer Schauspieler läuft durch die Publikumsreihen: »Der Reichstag in Flammen! Von Kommunisten in Brand gesteckt«, ruft er und verteilt Nazi-Flugblätter. Der Reichstagsbrand gilt als historische Zäsur: Die Nazis nutzen ihn für ihre antikommunistische Propaganda, und um Grundrechte aus der Weimarer Verfassung außer Kraft zu setzen. Zwei Schauspieler stellen den anschließenden Gerichtsprozess nach. Einer spielt den angeklagten Kommunisten Georgi Dimitroff, der sich erfolgreich selbst verteidigt, ein anderer den Nazi Joseph Goebbels. Der Schauspieler Dimitroffs imitiert den bulgarischen Akzent so, dass er sich wie auf Originaltonaufnahmen anhört.

Das Publikum, das am Ende der Aufführung minutenlang stehend applaudiert, scheint von Anfang an in den Bann des Theaterstücks gezogen. Laute Tonaufnahmen nazistischer Propaganda sowie leise Töne vorgelesener Zitate von Primo Levi oder Erich Kästner erzeugen ein Gänsehaut-Gefühl, wie viele der Zuschauer*innen es nach der Aufführung benennen.

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Dem Theaterstück gelingt noch etwas anderes: Es holt das Publikum in die Gegenwart. Die Schauspieler sagen, dass sie ganz bewusst durch den Einsatz von Rap und der Abwandlung bekannter Gedichte (darunter »Die Gedanken sind frei«) das Theaterstück ins Heute holen. Ein Schauspieler sagt, dass er bei der Arbeit am Stück an die AfD denken musste.

»Mutig« nennt ein anderer Schauspieler Helmuth Hübener. Der Antifaschist, der BBC-Funk hörte und Flugblätter gegen Nazi-Propaganda schrieb, wird 1942 denunziert und zum Tode verurteilt. »Ich muss jetzt sterben, aber ich habe kein Verbrechen begangen«, sagt ein Hübener spielender Darsteller kurz vor seiner Hinrichtung auf der Bühne. »Auf ein frohes Wiedersehen in einer besseren Welt«, sind die letzten Worte, die man von ihm auf der Bühne hört – ein Originalzitat Hübeners.

Resozialisation braucht Geld

Schulleiterin Birgit Lang spricht von zwei Strafen, die die Jugendlichen in Plötzensee treffen können: Die erste sei sicher – die gerichtlich verordnete Haftstrafe. Eine zweite, die nicht wenige treffe, sei die Abschiebung. Für die Gefangenen bedeute ein Projekt wie das Theater so viel, weil sie dann in Kontakt mit der Welt außerhalb des Knasts treten. Einer der Schauspieler wünscht sich, dass das Projekt Vorurteile abbaue. »Es gibt hier sehr viele Leute, die sind die liebsten überhaupt«, sagt er. Ein schwerer Fehler reiche aus, um ihnen den Kontakt zur Außenwelt für mehrere Jahre zu nehmen.

Was die jungen Männer der Presse noch mitgeben wollen: »Nicht so viel sparen bei der Justiz!« Tatsächlich wäre das Projekt fast geplatzt, da die Gelder von der Senatsverwaltung für Justiz gestrichen wurden, erklärt Schulleiterin Lang. Nur durch einen Fördertopf der Landeszentrale für politische Bildung konnte es noch umgesetzt werden. Das Problem sei nur: »Die Fördertöpfe werden auch immer weniger«, sagt Lang. Wegen der Sparpolitik des Senats hat die Schule bereits zwei Sprachkurse verloren. Auch der Podcast »Zweidrittel FM«, den die Gefangenen selbst gestalten, werde nicht mehr durch den Senat gefördert.

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