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Chemnitz: Sündenvergebung im Kulturhauptstadtjahr
Was man Chemnitz vorwerfen kann und was nicht – eine getarnte Liebeserklärung
»Scheen« war die »Grand Opening Show« am 18. Januar in Chemnitz, der etwas düster blickende Marx-Nischel überwölbt von einer Kuppel aus Licht und transparentem Bühnenzelt. Das West-Feuilleton fühlte sich von solch altkommunistischer Monumentalkulisse gestört, ahnungslos ob der Karl-Chemnitzer Seele. Es ist immerhin die zweitgrößte Porträtbüste der Welt, angefertigt von einem St. Petersburger Bildhauer namens Kerbel aus dem Sowjetland mit dem bis heute hartnäckig fortschwelenden Bruderstatus. Mit diesem Bronzekopf zumindest ist Chemnitz Weltspitze. Was ein Wahrzeichen wird und was nicht, kann man eben weder durch Stadtratsbeschluss noch per Feuilleton anordnen.
Schade nur oder eben auch nicht, dass am Schluss der Show eine einzelne private Drohne verhinderte, dass Hunderte geplante Drohnen zum Feuerwerk aufsteigen und Figuren an den Abendhimmel zeichnen konnten. Das wäre womöglich auch eine Spur zu triumphalistisch gewesen und hätte also dem Gestus der Bewerbung widersprochen. Dass Chemnitz Ende 2020 den Zuschlag unter den deutschen Bewerberstädten erhielt, hat mit einem Modewort zu tun, das die sieggewohnte sächsische CDU erst im Dämpfer-Wahljahr 2024 entdeckte: Demut! Chemnitz hatte den erfahrenen Ungarn Ferenc Csák geholt, in seiner Heimat war er schon Kulturstaatssekretär und Direktor der Nationalgalerie. Er hatte 2010 Pécs zur europäischen Kulturhauptstadt geführt und wusste, dass die Jury Wert auf den Entwicklungs- und Fördergedanken legt.
Konkurrent Dresden ahnte das zwar auch. Aber die höfische Residenz konnte mit Pfefferkuchenherzen und dem Slogan »Neue Heimat Dresden« nicht über ihren Schatten springen. »Dresden hat schon alles«, scherzte der seit vier Jahren amtierende Chemnitzer Programmgeschäftsführer Stefan Schmidtke. Chemnitz aber trug nie den Nimbus einer auserwählten Stadt vor sich her wie das eitle Dresden. Die im Juli 2018 vorgestellten ersten Leitgedanken für die Kulturhauptstadt-Bewerbung setzten nicht auf die Bestätigung einer Erfolgsgeschichte, sondern wählten das Motto »AUFbrüche«. Es ging um Basis und Breite und um die Wiederbelebung eines Stadtgefühls, das sich oft unter Verlusterfahrungen, tatsächlichen Skandalen, aber auch Kolportagen und Denunziationen verbarg.
Ja, Chemnitz hat auch gesündigt, aber nicht siebenfach tödlich. Bei wohlwollender Betrachtung waren es wohl eher die Verhältnisse, die nach Brecht eben »nicht so sind« und sich an der Stadt versündigt haben. Welche dann eben über sieben Brücken gehen musste, am Nischel vorbei auf der Brückenstraße, und dunkle Jahre zu überstehen hatte.
Hochmut kann man also Chemnitz nicht vorwerfen, ebenso wenig Neid und Missgunst. Hass aber schon, der Ende August 2018 in rechten Ausschreitungen eben am »Nischel« kulminierte. Am Rande des Stadtfestes kam es zu Auseinandersetzungen, in deren Folge ein Deutsch-Kubaner erstochen wurde. Ein syrischer Asylbewerber wurde später wegen Totschlags verurteilt. Über Netzwerke mobilisierten rechte Szenen sofort zu Massendemonstrationen. Am Rande eines dieser Märsche durch die Stadt drohte ein lieber normaler Chemnitzer dem Autor dieser Zeilen an, nach der Machtergreifung »gehst Du als Erster durch den Schornstein«.
Vom Hass versuchte sich Chemnitz auch mit seiner geglückten Kulturhauptstadtbewerbung zu befreien und zu rehabilitieren. Und doch gibt es die Bürgerinitiative »Pro Chemnitz«, deren Häuptling Martin Kohlmann mittlerweile zum Chef der radikalsten Rechtspartei Freie Sachsen avancierte. Die versuchten mit peinlicher Heimattümelei weit unter Hutzenstubenniveau, aber auch mit Hetzreden den Eröffnungstag zu stören. Aber nur etwa 150 Anhänger folgten dem Aufruf, kaum ein Zehntel der Gegendemonstranten. Denn es gibt auch Demokratieinitiativen und Flüchtlingshelfer wie das »Netzwerk für Integration und Zukunft e.V.« in Chemnitz. Zum Kulturhauptstadtjahr gehören eine »Europäische Werkstatt für Kultur und Demokratie«, ein Doku-Zentrum zum NSU-Komplex oder Diskussionen über das Aufkommen des Nationalismus in den 1920er Jahren. »Wir arbeiten hin auf die Betriebsfähigkeit von Demokratie«, verkündete Programmchef Schmidtke.
Aus Flachlandperspektive bildet Chemnitz das Tor zum Erzgebirge, das nur als geschlossene Gesellschaft funktioniert. Über mentale Verwandtschaften kann man spekulieren. Anders als das sich nach dem Auslaufen des Erzbergbaus immer wieder mühsam aufrappelnde Erzgebirge kommt Chemnitz ursprünglich aber nicht aus der Defensive. Die Todsünde Habgier hin oder her, die Industriestadt gehörte zum frühen Turbokapitalismus. Nicht von ungefähr ist das Besucher- und Informationszentrum der Kulturhauptstadt in eine ehemalige Halle der berühmten Maschinen- und Lokomotivfabrik Hartmann eingezogen. Und die größte Attraktion des Eröffnungstages war die von Zehntausenden umlagerte Hartmann-Lok »Hegel«, deren 20 Tonnen von athletischen Bürgergruppen jeweils 25 Meter am Seil gezogen wurden.
Vor mehr als hundert Jahren galt Chemnitz noch als die Stadt mit dem höchsten Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in Deutschland. Ein Reichtum, der aber für die Mehrheit nicht mit den Sünden Wollust und Völlerei einherging. Denn die Arbeiter, die diesen Reichtum schufen, begründeten im späteren 19. Jahrhundert zugleich den Ruf des »Roten Sachsens«. Ein bis heute geläufiger Spruch lautet: »Was in Chemnitz erarbeitet wird, wird in Leipzig gehandelt und in Dresden verprasst«.
Die mithin proletarisch gefärbte industrielle Basis dieses Wohlstands spielte in den vergangenen 30 Jahren sächsischer CDU-Dominanz nur eine untergeordnete Rolle. Mühsam kam der Zweckverband Industriemuseum mit Hauptsitz in Chemnitz zustande. Und es dauerte bis zum Jahr 2020, ehe sich eine Landesausstellung diesem Erbe widmete. Unterlassungssünden, für die die Chemnitzer nichts können.
Aus einer positiven Stadterzählung kommend, sind wir damit bei jenen »Kerben in der Stadtgeschichte«, die schon die Leitlinien zur Kulturhauptstadtbewerbung 2018 erwähnen. »Noch immer sucht Chemnitz nach Identität und Selbstverständnis«, heißt es da. Nicht nur linksorientierte Chemnitzer meinen, die Stadt setze sich zu wenig mit der NS-Zeit und ihrer Vorgeschichte auseinander. Das umfangreiche Jahresprogramm unternimmt Schritte in diese Richtung, zumindest die Verquickung von Kunst und Gesellschaft betreffend. Denn diese Phase führte ausgangs des Zweiten Weltkrieges zu einer traumatisierenden Katastrophe für eine Stadt, die ebenso wenig unschuldig war wie Dresden.
Die Nationalsozialisten hatten die Stadt des Automobil- und Maschinenbaus schon vor dem Überfall auf Polen 1939 zu einem Schwerpunkt der Rüstungsindustrie ausgebaut. Aber die britisch-amerikanischen Bombardements Anfang 1945, am schwersten das in der Nacht des 5. März, galten nicht nur diesen Betrieben, sondern folgten auch der britischen Strategie des »Moral Bombing«. Etwa 4000 Menschen kamen ums Leben. Zerstört wurden nicht nur zahlreiche Betriebe, sondern auch die Innenstadt zu 80 Prozent und ein Viertel des Wohnungsbestandes. Die Wunde ist bis heute sichtbar. Weder der versuchte Aufbau einer sozialistischen Großstadt noch Solitäre simulierter Wohlstandsarchitektur nach 1990 haben Chemnitz ein Zentrum und eine organische Struktur wiederbringen können.
Die ungepufferte Martwirtschaftskonkurrenz nach der Wirtschafts- und Währungsunion 1990 führte zu einer beispiellosen zweiten Deindustrialisierung. Chemnitz verlor ein Fünftel seiner Einwohner, heute sind es noch 250 000. Man nennt sich »Stadt der Moderne«. Neben der Universität gibt es vor allem spektakuläre Ausstellungen in den städtischen Kunstsammlungen oder in der zeitgenössischen Galerie. Mittlerweile liegt das BIP pro Einwohner immerhin wieder 5000 Euro über dem sächsischen Durchschnitt.
Doch so schnell weicht das Verliererimage nicht. »Ich komm’ aus Karl-Marx-Stadt /Bin ein Verlierer, Baby, original Ostler« singen Kraftklub. Sogar nach dem gelungenen Auftakt zur Kulturhauptstadt sprach aus manchen Äußerungen in Dresdner Kulturkreisen immer noch das abfällige »Die können ’s nicht«. Aufgehängt an kleinen Pannen oder Unklarheiten. Andererseits konnten es Stadtbürger und sogar Kollegen im Pressezentrum kaum fassen, dass sich Auswärtige so sehr für sie interessieren, ja sogar Empathie mitbringen. Ein bisheriges Versäumnis, aber der anderen. Für Chemnitzer Verhältnisse verlief dieser 18. Januar ausgesprochen locker, ja fröhlich. Wo sonst wird der steintrockene Bundes-Steinmeier noch mit solchem Applaus, ja, Jubel empfangen wie zur Nischel-Show?
Wohin soll es gehen? »Raus aus Chemnitz?«, wird gefragt, eine Opernuraufführung thematisiert Lebensvarianten, ein Themenblock debattiert gar Möglichkeiten eines modernen Klimakapitalismus. Ferenc Csák erneuerte seine schon vor sechs Jahren formulierte Erwartung, dass man etwa die Hälfte der Einwohner erreichen könne. Dann wäre das Glas halbvoll, ergänzte Oberbürgermeister Sven Schulze. Ein Rekordwert! Und wer sich im Laufe des Kulturhauptstadtjahres 2025 seiner bisherigen Fehleinschätzungen bewusst wird, sollte sich zur Buße der Lebensweisheit erinnern: Man liebt die Problemkinder! Als die die Chemnitzer nicht mehr erscheinen wollen.
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