S-Bahn Berlin droht Fahrzeugkrise

Vergabe-Zeitplan zum siebten Mal verschoben – es soll an Brandenburg liegen

Wackelkandidat: Wie lange die noch zu West-Berliner Zeiten entwickelten Züge der Baureihe 480 noch durchhalten, ist derzeit offen
Wackelkandidat: Wie lange die noch zu West-Berliner Zeiten entwickelten Züge der Baureihe 480 noch durchhalten, ist derzeit offen

Es ist fast schon Routine für alle Beteiligten – wenn auch eine ungeliebte. Der Abgabetermin für die verbindlichen Angebote für Fahrzeuge, Instandhaltung und Betrieb von zwei Dritteln des Berliner S-Bahnnetzes ist erneut verschoben worden. Nun schon zum siebten Mal. Statt 20. Februar, wie zuletzt angepeilt, soll es nun der 27. März werden. Also des Jahres 2025. Das bestätigt die Pressestelle der Senatsmobilitätsverwaltung auf Anfrage von »nd«.

Damit liegt der neue Abgabetermin für die verbindlichen Angebote genau 364 Tage nach dem ersten angepeilten Datum, dem 28. März 2024. »Grund für die Fristverschiebung sind noch andauernde Abstimmungen mit dem Land Brandenburg«, heißt es aus der Senatsverwaltung.

Der Berliner Fahrgastverband IGEB wirft den Ländern Berlin und Brandenburg vor, die »nächste große Fahrzeugkrise« der Berliner S-Bahn »fahrlässig in Kauf« zu nehmen.

Die Gewinner der Mega-Ausschreibung sollen laut dem aktualisierten Zeitplan im dritten Quartal des laufenden Jahres feststehen. Erneut weiter nach hinten verschoben wurde auch die Betriebsaufnahme der neuen Fahrzeuge. Auf den Ost-West-Linien S3, S5, S7, S75 und S9 des Teilnetzes Stadtbahn ist laut Senatsverwaltung nun der 17. Februar 2031 angepeilt. Die dem Teilnetz Nord-Süd zugeordneten Linien S1, S2, S25, S26 und S85 sollen ab dem 28. April 2031 auf die neuen Züge umgestellt werden.

5,6 Milliarden Euro für 1400 Wagen

Die Verträge für die Teilnetze bestehen aus drei Komponenten: dem Kauf von 1400 neuen S-Bahn-Wagen durch das Land Berlin zu derzeit geschätzten Kosten von 5,6 Milliarden Euro, der Instandhaltung dieser Flotte für 30 Jahre sowie dem Betrieb der Züge für 15 Jahre – länger laufende Verträge für die Verkehrsleistung sind nicht zulässig.

Derzeit sind auf den beiden Teilnetzen 1130 S-Bahn-Wagen unterwegs. 1000 davon gehören zur von 1995 bis 2004 gelieferten Baureihe 481. Nach Abschluss der bis Ende dieses Jahres laufenden Runderneuerung geht die S-Bahn Berlin GmbH davon aus, dass sie »noch bis 2036 zuverlässig betrieben werden können«.

West-Berliner Schätzchen

Unklar ist jedoch, wie lange die 130 Wagen der noch zu West-Berliner Zeiten entwickelten Baureihe 480 durchhalten werden. Die derzeit auf der S3 fahrenden Züge sind 31 bis 35 Jahre alt. »Zuverlässig einsetzbar« sind sie nach Angaben der S-Bahn nur noch bis Ende der 2020er Jahre. Tatsächlich war bisher vorgesehen, ihnen nach Ablauf der Fristen keine weitere Revision zu gönnen. Spätestens nach acht Jahren müssen Schienenfahrzeuge diese Art TÜV durchlaufen. 20 Wagen müssten bereits 2029 die nächste Revision bekommen, je 38 in den Jahren 2030 und 2031; die letzten 34 Wagen dürfen noch bis 2032 rollen.

»Ob ein Einsatz darüber hinaus möglich ist und wenn ja, mit welcher Zuverlässigkeit, muss erst im Rahmen aufwändiger Untersuchungen ermittelt werden«, heißt es von der S-Bahn zur Baureihe 480. Die sind inzwischen angelaufen, Ergebnisse soll es aber erst Ende dieses Jahres geben.

Ob eine Revision möglich ist, hänge vor allem davon ab, wie stark die Rostschäden seien, erläuterte S-Bahnchef Peter Buchner im vergangenen November. Um festzustellen, in welchem Zustand die Wagenkästen sind, müsse man »den Boden öffnen und vorsichtig die Einstiegsbereiche anschauen, und dann muss man Risikobewertung machen und daraus ableiten, mit welchem Aufwand man die noch mal revisionieren kann«.

Neue Strecken und weniger Züge?

Sollte die Substanz schlecht sein, müsste also spätestens ab 2029 das Angebot reduziert werden, obwohl eigentlich ein dichterer Takt versprochen war. Zumal auch noch Strecken dazukommen. Spätestens Ende März soll die neue S15 zwischen Gesundbrunnen und Hauptbahnhof den Fahrgastbetrieb aufnehmen. Das scheint nach vielen Verschiebungen der Eröffnung nun sicher zu sein. Denn der Probebetrieb ohne Fahrgäste auf diesem ersten Teilstück der zweiten Nord-Süd-Verbindung der Berliner S-Bahn soll laut internen Informationen am 26. Februar um 4 Uhr früh beginnen.

Bisher hält man bei der Bahn offiziell auch daran fest, dass im Herbst 2029 die Siemensbahn nach Gartenfeld wieder in Betrieb gehen wird, wofür weitere Züge benötigt werden. Doch Zweifel am Eröffnungstermin sind angebracht, da es planerische Kollisionen mit dem zeitgleich geplanten Neubau der kreuzenden Rudolf-Wissell-Brücke der A100 gibt.

Erneuter Rechtsstreit möglich

Insider tun sich indes schwer zu glauben, dass die S-Bahn-Vergabe nach vielen Verzögerungen nun endlich auf der Zielgeraden einläuft. Denn der französische Bahntechnikkonzern als Bieter für Fahrzeuge sieht sich systematisch benachteiligt gegenüber dem Konsortium der Hersteller Siemens und Stadler zusammen mit der S-Bahn Berlin GmbH als Betreiberin. Ein entsprechendes Verfahren vor dem Kammergericht sorgte bereits für erhebliche Verzögerungen.

Zuletzt gab es Berichte, dass ein längst abgeräumt geglaubtes Thema in den Verhandlungen erneut auf den Tisch gekommen ist. Es ging um die Option, die Fahrspannung im S-Bahnnetz von 750 auf 1500 Volt zu erhöhen. Als Vorteil wird herausgestellt, dass wesentlich weniger neue Unterwerke für den dringend nötigen Ausbau der Stromversorgung des Netzes errichtet werden müssten und sich somit Kosten sparen ließen. Doch dafür müssten auch die zu liefernden Fahrzeuge umkonstruiert und ausgerüstet sein – mit zusätzlichen Kosten und vor allem Zeitbedarf.

Verfahren ist eine Zumutung

»Die wiederholten Verlängerungen des Vergabeverfahrens sind aber auch gegenüber den Bietern als Unternehmen und gegenüber den Menschen, die an den Ausschreibungen und bei den Bietern arbeiten, eine Zumutung. Frust und Zukunftsängste sind schon heute spürbar«, erklärt Christfried Tschepe, Vorsitzender des Fahrgastverbands IGEB.

Er fordert von den Ländern Berlin und Brandenburg, »auf die 1500-Volt-Option zu verzichten und das Vergabeverfahren kein weiteres Mal zu verlängern – oder das Vergabeverfahren abzubrechen und eine Verhandlungslösung zu suchen«.

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